Der Kapitalismus und seine Kritik (68-87)
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10. Die erste Kernthese in diesem Abschnitt (und meines Erachtens auch die interessanteste und
folgenreichste in dem ganzen Buch!) besteht in der Aussage, dass die Kritik der Motor für die
Veränderung des kapitalistischen Geistes ist, da der Kapitalismus aufgrund seiner normativen
Unbestimmtheit ihn nicht aus sich selbst erzeugen kann. Ohne diese Kritik wäre der Kapitalismus nicht
imstande, moralische Stützen und Gerechtigkeitsstrukturen in sich aufzunehmen. Ohne sie wäre der
Kapitalismus entgegen der vielen Zusammenbruchsannahmen seit Marx nicht so widerstands- und
überlebensfähig gewesen.
11. Die Wirkung der Kritik auf den kapitalistischen Geist tritt in drei Formen
zutage: - sie kann vorherige Formen des kapitalistischen Geistes delegitimieren und sie dadurch ihre
Wirksamkeit berauben und so einen neuen hervorbringen, - sie kann sich dem kapitalistischen Prozess in
den Weg stellen und der Kapitalismus kann so gezwungen werden, auf die aufgeworfenen Problempunkte
tatsächlich einzugehen, sie zu verinnerlichen und eine effektive Verbesserung der
Gerechtigkeitsbedingungen herzustellen, - dieselbe Kritik kann aber auch umgangen werden, indem er
sich den Forderungen entzieht, indem er beschleunigte Veränderungen der Produktionsformen einleitet.
In diesem Fall entsteht eine gewisse Zeit der Unordnung und ein Zustand äußerster Unschärfe, die alte
Welt, gegen die die Kritik einst zu Felde zog, ist verschwunden, von der neuen lässt sich noch nichts
mit Bestimmtheit sagen. Es kommt zu einer zeitweiligen Lähmung der Kritik und mittelfristig zur
Entstehung eines neuen kapitalistischen Geistes.
12. Die Wirkung der Kritik auf den Kapitalismus
erfolgt über den Einfluss, den sie auf die zentralen Bewährungsproben des Kapitalismus ausübt. Sie
ist im Gegensatz zur Kraftprobe eine legitime Wertigkeitsprüfung, in der die bestehende Ordnung
in Frage gestellt und das Wertigkeitsniveau der Beteiligten mit Verdacht belegt wird
(Äquivalenzprinzip). Der Begriff ‚Bewährungsprobe', im Französischen eher vertraut als im
Deutschen, ist eine zentrale analytische Kategorie, insofern mit der Art und Weise ihrer
Durchführung der Gerechtigkeitsgehalt einer Gesellschaft definiert werden kann.
13. Die Kritik an den Bewährungsproben lässt sich in zwei Formen untergliedern, die korrektive
(reformistische) und radikale (revolutionäre). Die Reaktion des Kapitalismus auf die korrektive
Kritik entspricht der schon oben (unter 11.) dargestellten Weise. Ergänzend kommt der Begriff der
Verschiebungen hinzu. Wenn der Kritik nicht entsprochen werden soll, weil die Kosten trotz
höherer Legitimität zu hoch wären, wird sie umgangen. Dazu nimmt der Kapitalismus vielfältige,
lokal begrenzte, nicht sehr auffällige Verschiebungen geringer Tragweite vor, so dass "am Ende"
der Kritik die Grundlage entzogen wurde und sie die Welt nicht mehr zu deuten weiß. Der
Kapitalismus schafft so alte Bewährungsproben ab, macht sie also irrelevant, und verlöre damit
allerdings auch seine bisherigen Legitimationen und Gerechtigkeitsstrukturen. Dies muss nicht der
Fall sein, wenn er neu gestaltete Bewährungsproben schafft. Hierbei kann er sich auf die
Radikalkritik stützen, die ebenfalls die Abschaffung der alten Bewährungsproben im Namen eines
(neuen) Allgemeinwohls fordert(e), allerdings unter anderen Wertvorstellungen!
14. Die Kritik wird inhaltlich und historisch weiter differenziert. Die Versprachlichung der
Kritik wird als Empörung bezeichnet, die zwei Ebenen umfasst: die ursprüngliche Ebene, das
Gefilde der nie ganz verstummenden Emotionen (ohne diese sentimentale Gefühlsregung kann das
Schwungrad der Kritik gar nicht in Gang kommen!), die theoretisch-argumentative Reflexionsebene,
durch die eine ideologische Auseinandersetzung überhaupt erst möglich wird. Wenn von Lähmung
der Kritik die Rede ist, dann ist diese Ebene gemeint. Da der Kapitalismus sich seit seinem
Entstehen zwar vielfältig verändert , aber seine "Natur" beibehalten hat, lassen sich als
Kondensat der letzten zwei Jahrhunderte vier Quellen der Empörung festmachen: - Entzauberung
und fehlende Authentizität, - Unterdrückung, - Armut und Ungleichheit, - Opportunismus und
Egoismus. Eine der Hauptschwierigkeiten der Kritik besteht darin, die verschiedenen
Empörungsmotive gleichermaßen zu berücksichtigen und sie in einen kohärenten Rahmen zu
integrieren, denn die Normen, auf die sich der Ausdruck der Empörung beruft, sind oftmals
unterschiedlicher Natur und deshalb schwer miteinander vereinbar. Sehr häufig verabsolutiert
eine Kritik ihre Stoßrichtung und wendet sich gegen die jeweils anderen....
15. Mit den Begriffen "Künstlerkritik" und "Sozialkritik" werden die Empörungsmotive und
Normbezüge unterschiedlichen Akteursgruppen zugeordnet. Die Künstlerkritik wurzelt in der
Lebensform der Boheme Ende des 19. Jahrhunderts, sie kritisiert den Sinnverlust, das verloren
gegangene Bewusstsein für das Schöne und Große als Folge der Standardisierung und der
triumphierenden Warengesellschaft. Sie beruht, exemplarisch bei Baudelaire, auf der Opposition
von Gebundenheit und Ungebundenheit, Stabilität und Mobilität. Sie speist sich also im
wesentlichen aus den ersten beiden Quellen der Empörung. Die Sozialkritik wird vor allem von
Sozialisten und Marxisten (die Arbeiterbewegten wäre vielleicht treffender) formuliert.
Partikularinteressen, Individualismus bis Egoismus, moralische Gleichgültigkeit und
Nicht-Einmischung stehen neben der Kritik an Armut, Ausbeutung und Ungleichheit an vorderer
Stelle. Beide Strömungen beinhalten eine modernistische und antimodernistische Variante und
können sich deshalb auch als die jeweils radikalere Kritik am Kapitalismus darstellen.
16. Die zweite Kernthese (ebenso bedeutsam wie die erste) besteht in der Aussage, dass eine
umfassende Kritik am Kapitalismus, die sich in gleichem Maße auf die vier Empörungsquellen
bezieht, unmöglich ist (84). Denn auch die radikalsten Varianten der Kritik haben stets etwas
gemeinsam mit dem, was sie kritisieren wollen. Deshalb komme es zu einer endlosen Dialektik
von Kapitalismus und Kritik - "jedenfalls solange man am kapitalistischen System festhält, was
mittelfristig wohl sehr wahrscheinlich sein dürfte."(86)
17. Im Schlussabschnitt wird eine Präzisierung der bisherigen Aussagen vorgenommen. Nicht
alle Verschiebungen des Kapitalismus sind auf die Kritik zurückzuführen: "Die
konkurrenzbedingte Rivalität zwischen den Kapitalisten zwingt diese dazu, unablässig nach
einem Wettbewerbsvorteil gegenüber ihren Mitbewerbern zu streben: durch technologische
Innovation, die Suche nach neuen und der Verbesserung der bestehenden Produkte und
Dienstleistungen sowie durch Abänderung der Arbeitsorganisation." Die Konkurrenz ist immer
ein mächtiger Impulsgeber für das Streben der Unternehmensleitungen nach neuen Methoden,
"deshalb ließe sich die Konkurrenz als Minimalrechtfertigung für die Transformation des
Kapitalismus aus Gründen vorbringen, die zwar stichhaltig, für die am kapitalistischen
Prozess Beteiligten aber nicht akzeptabel sind, weil diese dadurch zu reinen
Erfüllungsgehilfen degradiert werden."(87) Weiter unten (103/104) heißt es :
"Der kapitalistische Geist, so wie er sich in der Literatur zeigt, befindet sich demnach
in einem dialektischen Verhältnis zu den Strukturen, deren Einführung er begleitet und
bedingt."
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