1968: Krise und Erneuerung des Kapitalismus


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Im Teil 2 werden zwei Abschnitte der jüngeren Geschichte der Arbeit in Frankreich mit einander verglichen, die unterschiedlicher nicht sein können: 1968-1978 die Periode einer offensiven, kämpferischen und teils erfolgreichen sozialen und gewerkschaftlichen Bewegung, der Infragestellung von Macht und ihrer Legitimität; der ‚Krise der Arbeit', aber auch die Phase der zurückgehenden Produktivität des Kapitals und 1985 - 1995 die Periode des "Verschwindens der sozialen Klassen", die soziale Bewegung tritt nur noch als "humanitäre Hilfe" in Erscheinung. Unschlüssige Gewerkschaften, viele Arbeitsverhältnisse, auch die im Angestelltenbereich, werden prekär; die Arbeitsdisziplin wird wieder verschärft, die Produktivitätsgewinne für das Kapital sind beträchtlich; überall herrscht Ordnung, die kapitalistische Ökonomie prosperiert wieder. Die Unterschiedlichkeit spiegelt sich auch in der Intensität der Kämpfe: Von 1971 bis 1975 liegt die Zahl der jährlichen Streiktage bei durchschnittlich 4 Millionen, 1992 nur noch bei einer halben Million. Diese beiden sehr unterschiedlichen Perioden sind durch keinen sichtbaren politischen Bruch herbeigeführt worden, sondern im Gegenteil kennzeichnen sich durch eine hohe politische Kontinuität, insbesondere auch infolge der Machtübernahme durch die Sozialisten 1981. Wie ist das zu erklären?

28. Die Jahre der Kritik

Die Kritik speist sich aus zwei Quellen: der Sozialkritik und der Künstlerkritik. In der Sozialkritik prangern die ArbeiterInnen vor allem die kapitalistische Ausbeutung an und erreichen infolge der Arbeiterrevolten um 68 eine deutliche Steigerung ihrer Löhne, die Lohnquote steigt zu Lasten der Gewinne. Das in Frankreich im Vergleich zu den europäischen Nachbarländern besonders krasse Lohngefälle bei den Hilfsarbeitern wird Anfang der 70er eingeebnet. Die Künstlerkritik prangert insbesondere die entfremdeten Arbeitsverhältnisse an und fordert eigenverantwortliche, kreative Arbeitsplätze. Die Künstlerkritik in der Studentenbewegung, vorformuliert durch die situationistische Internationale und in der Zeitschrift "Socialisme ou Barbarie", verlangt eine radikale Emanzipation, lehnt die patriarchale Form der Betriebsorganisation und die bürgerliche Familie ab. Im Umfeld der Betriebe konzentriert sich die Sozialkritik vor allem auf Forderungen nach Sicherheitsgarantien für die Beschäftigten in allen Abschnitten ihres betrieblichen Arbeitslebens und in der Künstlerkritik auf die Forderung nach Autonomie am Arbeitsplatz, mit der Folge einer massenhaften Gehorsamsverweigerung, einer Infragestellung der überkommenen betrieblichen Hierarchien, einer Rebellion gegen die Arbeit. In der Zeit nach dem Mai 68 konvergieren zum ersten und einzigen Mal die Autonomie- und die Sicherheitsforderungen und werden nicht selten von denselben Akteuren vorgebracht. Das mündet Anfang der 70er in einer Krise der Arbeit. In einer umfangreichen Studie konstatiert dies auch eine OECD-Studie von 1972, in der von dem "Phänomen der Zersetzung, das heute das Verhalten der Arbeiter kennzeichnet" geschrieben wird. Von einer Revolution, die "alle kulturellen Grenzen" überschreite ist die Rede und die selbst nicht vor der Etagen des Führungspersonals halt mache, beklagt die Studie. Eine militante Streikwelle erschüttert Frankreich Anfang der 70er Jahre, in der die "Autoritätskrise" und die Hierarchiekritik manifest wird. Es kommt dabei zu Betriebsbesetzungen, Sabotage, Festsetzung der Fabrikleitung. Angeführt werden die Streiks häufig von ungelernten HilfsarbeiterInnen. Dies führt nicht nur zu erheblichen Produktionsausfällen sondern auch zu einer deutlichen Erhöhung der Produktionskosten infolge der Zugeständnisse des Kapitals. Besonders jüngere Arbeitnehmer verweigern sich der Arbeit und bei diesen sei ein verstärktes Autonomiebesteben festzustellen, beklagt eine soziologische Untersuchung. Es sei eine regelrechte Abkehr von der Lohnarbeit und Hinwendung zu alternativen Lebensformen nicht nur unter jungen Akademikern sondern auch unter jungen Erwerbspersonen festzustellen. Die Forderungen der Streikenden beziehen sich auf flexiblere Arbeitsbedingungen, Arbeitszeiten, Autonomie und Freiheit. Die Krise der Arbeit und die militanten Kämpfe richten sich vornehmlich gegen die einsetzende Rationalisierungswelle, die Taylorisierung der Arbeit. Zugleich wachsen mit dem Eintritt von jungen Führungskräften wie Ingenieuren die Kritiken an der weiteren Zergliederung der Arbeit und subalternen Hierarchien. "Neuartig an den Forderungen der 70er Jahre ist vielmehr, dass das Hierarchieprinzip als solches angezweifelt wird", schreiben B/C, "und das die Autonomieforderung über die leitenden Angestellten hinaus auf alle Arbeitsbereiche, in denen qualifiziertes Personal beschäftigt ist, überspringt." Besonders die Gewerkschaft CFDT trägt diese Forderungen nach Selbstverwaltung und Autonomie und integriert Teile des Führungspersonals, der cadres, in die Kämpfe.

29. Reaktionen und Antworten auf die Kritik

Unternehmerverbände und Regierungen antworten auf die Krise zunächst nur mit Zugeständnisse in der Sozialkritik, also Verbesserungen der Arbeitsplatzsicherheit und Lohnerhöhungen. Gegenüber den Autonomie- und Kreativitätsforderungen verhalten sie sich zunächst schroff abweisend. Die Zugeständnisse können aber die Desorganisation der Produktion nicht vermindern. Die Streiks gehen weiter, die Künstlerkritik nach mehr Autonomie, Kreativitätsmöglichkeiten und Abbau der Hierarchien verstummt nicht. Die größte Gewerkschaft, die kommunistische CGT konzentriert sich in Fortschreibung des "Accords von Grenelle" aus dem Mai 68 auf die Umsetzungen der Forderungen, die aus der Sozialkritik herrühren, also höhere Löhne, besseren Status, Recht auf Weiterbildung, Arbeitsplatzgarantien etc. Durch die erfolgreichen Streiks bekommen die beiden großen Gewerkschaften, die CGT und die CFDT großen Zulauf und werden auch auf nationaler Ebene als seriöser Verhandlungspartner von den Unternehmern deutlicher anerkannt. Ja die Unternehmensverbände erkennen in den Gewerkschaftsspitzenvertretern in der Periode der militanten, oft spontanen Streiks plötzlich die Garanten für eine neue Verlässlichkeit und Stabilität - die Sozialpartnerschaft wird entdeckt. Die Hauptsorge der Kapitalisten ist, dass "die Gewerkschaften die Kontrolle über ihre Basis verlieren könnten", so die Trilaterale Kommission (TLK) in einem Bericht von 1975. Neben den neuen Tarifverträgen kommt eine Reihe von Gesetzen hinzu, die den Status des Arbeitnehmers erheblich verbessern, wie Schaffung eines Mindestlohns, Mutterschaftsgeld, Frühverrentungsabkommen, vier Wochen bezahlter Urlaub, deutliche Erhöhung des Arbeitslosengeldes, Bußgeldverschärfung bei Verstoßen gegen das Arbeitsrechts. Kurz: "In den Jahren im Anschluss an die 68er Unruhen erlebt Frankreich den größten sozialen Fortschritt seit Kriegsende."(B/C, 233) Unnachgiebig bleiben allerdings die Arbeitgeber in Sachen Autonomie oder Selbstverwaltung wie die Konflikte bei LIP 1973 exemplarisch zeigen. "Die Autorität der Unternehmensführung ist unteilbar" lautet immer noch das Credo des Unternehmerverbandes CNPF Mitte der 70er Jahre. Doch dieser auch ideologisch beeinflussten Haltung fallen die materiell weiterhin schlechten Verwertungsbedingungen für das Kapital in den Rücken: Die Krise infolge des Ölpreisschocks trägt zu einem Umdenken unter den progressiven Unternehmern, wie dem Verband der jungen Unternehmern bei. Da die Streikbewegung nicht abebbt, die Rezession sich verschärft wachsen die Zweifel an der "umfassenden Vertragspolitik" mit den Gewerkschaften auf nationaler Ebene. Denn die Hierarchie-Kritik an der Personalführung in den Unternehmen nimmt nicht ab. Die Krise ist mit den bloßen Mitteln der Sozialkritik nicht beseitigbar. Die Expertenmeinungen von Soziologen, Unternehmensberatern und Spezialisten in der Personalführung, das nicht alles falsch sei an den "Ideen der 68er ", werden von den jungen Unternehmern Mitte der 70er aufgegriffen. Die fortdauernde Verwertungskrise und "Desorganisation der Produktion" infolge von Fehlzeiten, Kündigungswellen, Fehlproduktionen etc. wird begriffen als eine Krise der tayloristischen Arbeitsorganisation. Industriesoziologische Untersuchungen stellen fest, dass besonders die ArbeitsmigrantInnen vom Lande sich in ihrer Würde und Ehre sowohl durch die Entleerung des Arbeitsprozesses wie durch den Kommandostil der Vorarbeiter und des Managements verletzt fühlen. Des weiteren gerät die beständige Dequalifizierung der Arbeit in zunehmenden Widerspruch zu dem gestiegenen Bildungsniveau der jungen Erwerbstätigen. Selbst die CNPF erkennt Ende der 70er Jahre die Notwendigkeit, den Gewerkschaften in den Betrieben "Konkurrenz" um die sozial-politische Oberhand über die Beschäftigten zu machen. Ähnlich argumentiert die TLK 1978 mit Verweisen auf die positiven Erfahrungen in Japan, indem sie wegen der "Wirkungslosigkeit des autoritären Managements" das Ende der diktatorischen Betriebsführung fordert, mit neuen "demokratischen Führungspersönlichkeiten", die zu "Vorbildern und technischen Beratern" mutieren sollen. Dass nun plötzlich auf gesellschaftspolitischer Ebene Elemente der Künstlerkritik in den Vordergrund treten, hat auch mit dem Niedergang der Attraktivität der KPF Ende der 70er Jahre zu tun. Die CGT war immer politisch eng mit der KPF verbunden und verliert in dem Sog der Kritik an der stalinistischen Politik der KPF sowohl durch die Rechte wie aber auch durch die Linksextremen an Bedeutung. Damit aber auch die vor allem durch die CGT vorgebrachte Sozialkritik. Ende der 70er, nach der Kündigung des Linksbündnisses von Sozialisten und Kommunisten, aber besonders Anfang der 80er Jahre konstatieren B/C einen regelrechten Zerfall des Einflusses der KPF und der CGT. Dieser Zerfall sei aber auch auf hausgemachte Fehler in der Politik der KPF, die auf politische Fehleinschätzungen gegenüber den neuen sozialen Bewegungen im Mai 68 zurückgehen, herbeigeführt worden. Hinzu kommt der Bruch des Aktionsbündnisses von CGT und CFDT wegen des Afghanistaneinmarsches und der fehlenden Kritik daran durch die KPF. Dem Bedeutungsverlust der CGT steht für kürzere Zeit ein Anwachsen des Einflusses der CFDT gegenüber, die stärker die Künstlerkritik an der Arbeit in den Jahren zuvor vertreten hat und nun profitiert von den neuen Entwicklungen und Experimenten in einigen Unternehmen, wie der Einführung von Qualitätszirkeln, neuen Vertretungsformen der Belegschaften mit Abbau der Hierarchien. Auf dem Gebiet der Arbeitsbedingungen wird nun einer stärkeren Individualisierung in Unternehmenskreisen das Wort geredet: es kommt zu einer "Bereicherung der Arbeitsaufgaben" bei gleichzeitiger Übertragung der Verantwortung auf die Angestellten, zu einer höheren Flexibilisierung der Arbeitszeiten und des Besoldungssystems. Durch diesen Politikwechsel wird "Sicherheit gegen Autonomie getauscht" (B/C,243). In der Personalführung tritt der Prozess der Individualisierung der Rechte an die Stelle der kollektiven Interessenvertretung und -absicherung. Die Kontrolle durch Selbstkontrolle wird zur Handlungsmaxime für das Management. "Das damals wichtigste Ziel der Arbeitgeber, nämlich die Herrschaft in den Unternehmen wieder an sich zu reißen, wurde nicht dadurch erreicht, dass die Macht der Vorgesetzten, die Länge der Hierarchieleitungen und die Zahl der Berechnungsinstrumente bzw. bürokratischen Direktiven erhöht worden wäre. Vielmehr wurde mit den zurückliegenden Kontrollfunktionen gebrochen und die Forderungen nach Autonomie und Eigenverantwortung, die man bis dahin als subversiv betrachtet hatte, endogenisiert." (B/C, 244) Die Experten der Arbeitgeber erkennen die Vorteile des flexiblen Arbeitszeitsystems. Dadurch lasse sich die Produktion viel "besser am Markt anpassen". Des weiteren werde durch die Umstrukturierung der Arbeitsplatzprofile die Kontrollfunktion neu zu konzipieren sein, wobei die Vorarbeiter weniger die Rolle des Vorgesetzten wie eher die des Beraters für die autonomen Arbeitsgruppen einzunehmen hätten. In der Endphase werde dann der Arbeitnehmer selbst die Probleme erkennen und beseitigen. Damit realisieren die französischen Unternehmer eine Forderungen der OECD von 1972, nämlich das "den Arbeitnehmern eine aktivere Rolle auf allen Ebenen zugestanden werden sollte, ob nun in der Fabrikhalle, in den unteren Führungsschichten, bei der Konzeption, Organisation oder auch Kontrolle ihrer Arbeit". Auch die Diskussion um die Selbstverwaltung und die teils positiven Erfahrungen in Jugoslawien, aber auch die "Dezentralisierung der sozialpartnerschaftlichen Beziehungen" in Japan findet nicht nur unter Anhängern der CFDT statt, sondern auch in jungen Unternehmerkreisen, die u.a. in einer Sonderausgabe von 1972 die andersartigen japanischen Managementpositionen vorstellen. Insofern findet tatsächlich "ein Kompetenztransfer von der linken Protestkultur zum Management" B/C, 252) statt. Leider fehlen hier aber bei B/C Hinweise, inwieweit die Ende der 70er Jahre stark gewachsene Konkurrenz mit japanischen und südkoreanischen Konzernen auf dem Weltmarkt bei der Evaluierung der Arbeitsorganisation in der franz. Industrie eine Rolle spielte. Flexibilität und Deregulierung sind die Modebegriffe der 80er Jahre. "Die Wiedererlangung der unternehmensinternen Kontrolle wurde über den Umweg zahlloser partieller bzw. lokaler "Innovationsmaßnahmen" - wie es in der Sprache der Unternehmensberatung heißt - die im Trial and Error-Verfahren auf einander abgestimmt werden, erreicht sowie mittels einer Reihe von Verschiebungen morphologischer (z.B. Standortverlagerung, Ausbau des Zulieferersystems) organisatorischer (Just in time - Produktion, Polivalenz oder kürzere Hierarchieketten) bzw. rechtlicher Natur (z.B. Einsatz von Führungspersonal mit Zeitverträgen und einer größeren lohnpolitischen Flexibilität, zunehmender Bedeutung des Handelsrechts gegenüber dem Arbeitsrecht). (....) Diese vielfältigen Verschiebungen haben die Natur dessen, worum es eigentlich geht, die Natur des Terrains, auf dem sich die Bewährungsproben abspielten, der Eigenschaften der Personen, die dort auf einander trafen, der Selektionsformen, die sich daraus ergaben, d.h. die Natur der Gesellschaft als Ganzes verändert. Dies geschah ohne Staatsstreich, ohne Revolution ohne Diskussion oder doch zumindest ohne eine Debatte, die der Tragweite der sich ereignenden Erschütterungen - im rückblickenden Urteil - gerecht geworden wäre"(B/C,248). Durch diese stille Revolution ist die Machtbalance, die sich in den 70er zugunsten der ArbeiterInnen verschoben hatte, wieder deutlich umgekehrt worden, ohne dass dabei das Kontrollniveau über die Arbeit mit hohen Überwachungskosten bezahlt werden musste. Nach dem Machteintritt der Sozialisten 1981 verschiebt sich zudem der gewerkschaftliche Einfluss zurück auf die betriebliche bzw. regionale Ebene und verliert damit weiter an Bedeutung. Nationale Verhandlungslösungen zwischen Kapital und Arbeit werden durch gesetzliche Bestimmungen seitens der Regierung abgelöst. Und in diesen Gesetzen wird die Flexibilisierung auf allen Ebenen vorangetrieben - auch weil in der Regierung Anhänger der Künstlerkritik und Befürworter der F. zu einflussreichen Posten gekommen sind. Zusammenfassend resümieren unter Bezugnahme auf Marx B/C am Ende des Kapitels die Vereinnahmung der Kritik durch das Kapital: "In unterschiedlichen Epochen (...) gelingt es ihm, sich an Gesellschafen mit völlig unterschiedlichen Idealen anzupassen und die Ideen derjenigen für sich zu vereinnahmen, die ihn in der vorangegangenen Entwicklungsstufe noch bekämpft haben". (257) Während der 2. Geist des K., entstanden in den 30er Jahren, mit der Kritik der kommunistischen und sozialistischen Massenpartien konfrontiert wurde und durch die partielle Aufnahme der Kritik (auch mit Hilfe des regulativen Staates) eine größere soziale Gerechtigkeit zuließ, geht der 3. Geist "auf Abstand zum Sozialkapitalismus unter staatlicher Planung und Kontrolle, der als veraltet, beengt und beengend betrachtetet wird, und stützt sich vielmehr auf die Künstlerkritik (Autonomie und Kreativität)."(B/C, 257)

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