Auf dem Prüfstein der Künstlerkritik


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43. Während sich, wie schon oben dargestellt, die Sozialkritik in der 90er Jahren langsam revitalisieren konnte, erscheint die Künstlerkritik weiterhin gelähmt zu sein, weil ihre wichtigsten Bestandteile, also z.B. Forderungen nach Emanzipation, Autonomie und Authentizität vom neuen Geist des Kapitalismus vereinnahmt worden wurden. Es dränge sich der Eindruck auf, als seien (speziell sexuelle) Emanzipation, Kreativität, freie Selbstverwirklichung und authentisches Eigenleben als grundlegende Werte der Moderne anerkannt. Dieser Prozess wird von den Autoren auch als eine Demokratisierung der Werte bezeichnet, der jedoch, insofern er als Vermassung auftritt (z.B. Kulturformen mit geringem Legitimitätsstatus) häufig einer arroganten aristokratischen Geringschätzung unterworfen wurde. Insbesondere so weit verbreitete Wünsche wie "sich am Arbeitsplatz zu entfalten", "etwas Interessantes tun", sich selbst zu verwirklichen" usw. wurden sehr häufig entweder belächelt oder gar verhöhnt..... Trotz dieser allgemeinen Anerkennung und Verbreiterung seien dennoch die Quellen der Empörung, aus denen sich die Künstlerkritik speist, keinesfalls versiegt. Im Gegenteil: Es sei sehr wichtig, sich auf das "Unterdrückungspotential der neuen Akkumulationsstrukturen"(450) zu konzentrieren, um so aufzuzeigen, wie die Möglichkeiten nach authentischen Beziehungen beeinträchtigt werden. Denn die ‚traditionellen' Künstler-Forderungen nach Emanzipation und Authentizität müssen ‚aktualisiert' werden, d.h. dass sie aus dem veränderten kapitalistischen Umfeld hergeleitet werden müssten.
44. Zeichen der Beunruhigung Im Gegensatz zur Sozialkritik, deren Ursprung in offensichtlicher Weise zu Tage tritt, lässt sich die Künstlerkritik nicht so leicht formulieren. Ein "diffuses Leid" der Menschen (am Leben) lasse sich nur schwer einer eindeutigen Ursache zuschreiben und/oder in einem Objekt lokalisieren. "Wir wollen hier (...) den Begriff der Beunruhigung verwenden. Er bezeichnet treffend das Unbehagen angesichts der Schwierigkeit, die Herkunft der Bedrohung näher zu bestimmen und Pläne auszuarbeiten, wie diese entschärft werden könnte."(451) In Anlehnung Durkheims Anomiekonzept (Auflösung des sozialen Zusammenhangs auf Grund schwächer werdender stillschweigender Normen und Übereinkünfte, die die wechselseitigen Erwartungen regeln) wird festgestellt, dass die älteren Bewährungsproben abgebaut werden, während die neuen, in der Netzwelt entstandenen Bewährungsproben nur schwach identifiziert und kontrolliert werden können. Daraus ergeben sich Handlungsunsicherheiten und Schwierigkeiten der Zukunftsplanung. Grundlegend sei ein Normenkonflikt zwischen dem Bedürfnis nach Dauerhaftigkeit (z.B. in Beziehungen) und flexibler Lebensgestaltung. Da Autonomie und Selbstverwirklichung zu ganz zentralen Normen geworden seinen, die ungleiche Verteilung von Erfolgsvoraussetzungen aber zunehmend verdrängt würden, werden Brüche im Leben und Scheitern als persönliches Versagen empfunden. Dadurch also, dass der neue kapitalistische Geist einen Teil der Künstlerkritik als Beitrag zur Profiterzeilung in "Rückgewinnungsschleifen"(455) aufgenommen habe, sind neue Unterdrückungsformen entstanden, die zu einer neuerlichen Art der Beunruhigung geführt haben. Wichtig ist also auch hier der Ansatz, dass z.B. gesellschaftliche Anomie nicht nur auf den Kapitalismus an sich zurückgeführt wird, sondern aus dem Wechselspiel zwischen Kapitalismus und Kritik bzw. den daraus entstehenden Verschiebungen und Rückgewinnungsschleifen.
45. Welche Emanzipation? Eine Hauptquelle der Künstlerkritik ist die Unterdrückung. Historisch ist der Kapitalismus untrennbar verknüpft mit einem Emanzipationsversprechen. Es gelang (und gelingt) ihm, Akteure an sich zu binden, die sich bewusst werden, bisher unterdrückt worden zu sein. In der Phase der Herausbildung des ersten kapitalistischen Geistes bestand das Emanzipationsversprechen darin, gegen den "Traditionalismus" hauptsächlich zwei Freiheitsgewinne zu postulieren: - die größeren formalen Wahlmöglichkeiten gesellschaftlicher Zugehörigkeit. Dieser Freiheitsgewinn lässt sich in der Entwicklung vom "Status" zum "Vertrag" darstellen. Abhängigkeitsverhältnisse der "traditionellen Gesellschaft" betrafen über den Status immer die ganze Person für das ganze Leben, Verträge binden nur einen Teil des Menschen, z.B. seine Arbeitskraft, für eine begrenzte Dauer. - die marktförmige Verteilung von Gütern und Dienstleistungen. Während in traditionellen Gesellschaften das Geben und Nehmen auf einem System von (persönlichen) Verpflichtungen beruhte ("die Gabe"), bietet der Markt insofern eine Emanzipationsmöglichkeit, dass er ein pflicht- durch ein preisreguliertes System ersetzt. Gegen beide Emanzipationsversprechen kamen aber schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Zweifel und Kritik auf. Es lassen sich zwei Kritikformen unterscheiden, die auf unterschiedlichen und teilweise widersprüchlichen Argumentationsmustern beruhen. Der erste Kritikkomplex (ich würde sagen: die linke Kritik) hebt die Disziplinierungseffekte hervor und bezweifelt die Fähigkeit des Kapitalismus, als Emanzipationsquelle zudienen, weil neue Formen der Unterdrückung geschaffen werden (Fabrikdisziplin und Macht des Arbeitsmarktes). Die Lösung aus traditionellen Lebensformen wird nicht nur als Fortschritt gesehen, sondern in gleicher Weise als Entwurzelung und neue Form der Sklaverei, die zu einer Konkurrenz aller gegen alle führe. Auch die Freiheit des marktförmigen Konsums wird in Abrede gestellt, weil der Konsument faktisch voll und ganz der Herrschaft der Produktion unterworfen sei. Was er für seine eigenen Wünsche hält, sei in Wahrheit ein Produkt der Manipulation. Marx: " Die Production producirt daher nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand."(460) Der zweite Kritikkomplex (ich würde sagen: die konservative Kritik) bezweifelt die Fähigkeit des Kapitalismus, eine lebensfähige Sozialordnung auf der Basis eines grenzenlosen Strebens nach Autonomie und Selbstverwirklichung zu errichten. In dieser Argumentation wird der Kapitalismus nicht wegen seiner neuen Disziplinierungsformen kritisiert, sondern (eher im Gegenteil) wegen seines Mangels an Disziplin. Gebe es keine Beschränkungen des Freiheitsgewinns durch (disziplinierende) Gemeinschaftsbildungen, käme es zu gesellschaftlicher Auflösung und einem gesellschaftlichen Desaggregationszustand à la Hobbes. Durkheims Anthropologie wird als Beispiel dieser Argumentation angeführt, die den Menschen, anders der Tierwelt, grenzenlose und ungezügelte Begierden unterstellt, die nur durch überindividuelle Instanzen kontrolliert und begrenzt werden könnten. Der zweite Geist der Kapitalismus habe beide Kritikformen in sich aufgenommen. Um die "erste Krise der Moderne" (Peter Wagner) Ende des 19. Jahrhunderts zu überwinden, seien sowohl "stabilisierende und handlungskoordinierende Maßnahmen" und stärkere institutionelle Grenzen als auch verbesserte und gesichertere Lebensbedingungen geschaffen worden ( Wohlfahrtsstaat). (461) (Andere Terminologien würden diese Phase vermutlich als "Fordismus" oder "sozialdemokratisches Jahrhundert" bezeichnen.) Aber auch dieser Kapitalismus geriet (logischerweise) in die Kritik. "Die Kritik am Kapitalismus, der seine Emanzipationsversprechen breche, bekommt bereits Ende der 60er Jahre mächtigen Auftrieb. Die Hierarchiezwänge, die die Präferenzbeziehungen und die dafür vorgesehenen Kanäle (Organigramm) vorschrieben, wurden verworfen und durch das Recht ersetzt, durch eine systematische Erkundung des Netzes alle potenziell bereichernden Kontakte zu knüpfen."(461) Der dritte Geist des Kapitalismus, der heute vorherrscht, ist zwar noch schwer kritisierbar, wie oben dargestellt (Lähmung der Künstlerkritik). Dennoch lassen sich deutlich Kritikpunkte formulieren, die das neuerliche Emanzipationsversprechen in Frage stellen, ohne einer "reaktionären Kritik"(462) am Paternalismus, an Bürokratisierung und vor allem an Taylorismus, also am fordistischen Regulationsmodus, das Wort zureden. Die neuen Formen des Kapitalismus haben zwar in gewisser Weise die Forderungen nach Autonomie und Eigenverantwortlichkeit, wie sie seit den 68er erhoben, eingelöst. " Die Führungskräfte, die aus der Hierarchieordnung entlassen wurden, um ‚autonome Profitcenter' zu übernehmen oder um ‚Projekte' zu leiten, sowie die Arbeiter, die nicht länger mit den fragmentiertesten Formen der Fließbandarbeit konfrontiert waren, haben natürlich bemerkt, wie sich ihr Verantwortungsbereich vergrößert hat und dass ihre Fähigkeit zu selbstständigen Handeln und Kreativität anerkannt wurde. Dennoch hat diese Anerkennung die Erwartungen aus mehreren Gründen nicht erfüllt."(462, H.v.V.) Zunächst ist das Mehr an Autonomie durch ein Weniger an Sicherheit ‚erkauft' worden. Weder signifikante Einkommensanhebungen und Beförderungen noch größere Arbeitsplatzsicherheiten sind die Folge des neuen Autonomiegewinns. Im Gegenteil: " ... die Mobilitätsmöglichkeiten (sind) in gewisser Hinsicht sogar geringer, weil sie im Wesentlichen auf den eigenen Bekanntenkreis beruhen und nicht mehr wie noch zuvor auf nationalen Äquivalenzen wie z.B. den Qualifikationssystemen."(463) Das habe zu der paradoxen Situation geführt, dass die Arbeitnehmer sowohl autonomer als auch fremdbestimmter seien. Zum Beispiel zeigen Untersuchungen über Avantgardebetriebe des neuen kapitalistischen Geistes (jene, die mindestens drei organisatorische Innovationen eingeführt haben), dass neben der Gewährung größerer Autonomie am Arbeitsplatz gleichzeitig mehr Zwänge eingeführt werden, z.B. detailliertere Beschreibung der Arbeitsaufgaben, systematische Überprüfung der individuellen Leistung. Hinzutreten immer häufiger Überwachungen durch Informatiksysteme. Besonders entscheidend ist aber eine Art dezentralisierte Kontrollform: " Da die Autonomie durch eine strengere Selbstkontrolle, eine verstärkte Teamarbeit und damit auch eine stärkere Mitarbeiterkontrolle begrenzt wurde, ist der Gedanke naheliegend, dass die Arbeiter im Grunde strenger überwacht werden als zuvor."(464) Früher war "... die Gruppensolidarität gegen die Vorgesetzten gerichtet, gegen die Vorarbeiter. Heute verbünden sich die Arbeiter gegen andere Arbeiter." (zit. Nach M. Pialoux, dort S.425/ hier S. 465) Aber auch im Anschluss an die auf Durkheim aufbauende Kritik am Freiheitsbegriff des Kapitalismus ließe sich eine neue Kritikform entwickeln. Charles Taylor wird als ein Autor dieser Richtung genannt, nach der Selbstverwirklichung nur dann Sinn habe, wenn sie auf ein Ziel ausgerichtet sei und eine bestimmte Zweckbestimmung habe, die überindividueller Natur sei. "Wenn man sich in einer Tätigkeit selbst verwirklichen möchte, müssen dazu außerhalb des eigenen Selbst Zielsetzungen bestehen, die einen Wert haben."(466)
46. Im folgenden Abschnitt wird unterschieden zwischen zwei grundlegenden Emanzipationsforderungen: Befreiung von einer Situation, in der ein Volk unterdrückt wird und Befreiung von jedweder Bestimmungsform, die die Selbstbestimmung und -verwirklichung der Individuen beeinträchtigt. Die erste Form verweist auf spezifische Entfremdungen, die für eine Gruppe, eine Kategorie gelten, die ungerechterweise unter einer Unterdrückung leiden; die zweite Form verweist auf generische Entfremdungen, die einem Individuum qua Geburt (z.B. Geschlecht) bestimmte Zwänge auferlegt. (Beide Formen seien in der Praxis sehr schwer voneinander zu unterscheiden, eine weitere Darstellung unterlasse ich an dieser Stelle, weil ich die Ausführungen nicht ganz nachvollziehen kann.) Sehr wichtig finde ich in diesem Abschnitt jedoch den Hinweis auf das Verhältnis von Emanzipation und Konsum. Es ..."ließe sich zeigen, dass fast alle Erfindungen, die das Wachstum des Kapitalismus befördert haben, mit neuen Emanzipationsmöglichkeiten verbunden waren. Bei der Entwicklung neuer, von Mensch und Tier unabhängiger Energieträger, bei der Automatisierung von (auch häuslichen) Fertigungsprozessen (Waschmaschine, Küchenmaschine, Fertiggerichte usw.), bei den Fortschritten im Waren- und Personen- (Eisenbahn, Auto, Flugzeug), aber auch im Datentransport (Post, Telephon, Radio, Fernsehen, Informatiknetze) liegt dies auf der Hand." Sie schaffen, wie vor allem auch Handys und diverse Aufzeichnungstechniken, einen Zeit- und Disponibilitätsgewinn.
47. Welche Authentizität? Eine andere Hauptquelle der Künstlerkritik die Kritik an der Inauthentizität des Kapitalismus. In diesem Abschnitt wird diese Kritikform nicht durch die ganze Geschichte des Kapitalismus und seines Geistes verfolgt ( wie bei der Emanzipationsforderung). Stattdessen liegt der Schwerpunkt der Analyse in der Betrachtung des Wechsels zwischen dem zweiten und dritten Geist des Kapitalismus. Die zentrale Kritik am Kapitalismus des zweiten Geistes bezieht sich auf Standardisierung und Vermassung. Der Verlust an Authentizität des Menschen drücke sich aus in einer Uniformierung oder auch einem Differenzabbau sowohl zwischen den Dingen als auch zwischen den Menschen. Dieser Differenzabbau zeige sich in allen Bereichen der Gesellschaft. Im Konsum habe die Massenproduktion nicht-unterscheidbare Waren hervorgebracht, die ihrerseits zu einer konsumbedingten Vermassung der Menschen geführt habe. In der Produktion verlieren die Arbeiter vor allem in der tayloristischen Fließbandarbeit ihre Singularität. Auch das politische Handeln, eigentlich im Aufklärungsliberalismus der ursprüngliche Ort der Autonomie, sei totalitären Tendenzen unterworfen, insofern die Menschen sich zu Massen zusammenfassen bzw. zusammengefasst werden. (Siehe z.B. auch eine ähnliche Kritik von Negri/Hardt, die deshalb auf die multitude setzen). In der Philosophie ist das Thema Authentizität in verschiedenen Formen und von unterschiedlichen Autoren durchdekliniert worden. Trotz aller Differenzen seien sich z.B. Heidegger, Adorno, Horkheimer, Marcuse in der ‚Haltung' einig, den totalitären Anmaßungen der Kulturindustrie zu entsagen, wenn es eine authentische menschliche Existenz geben solle. ( Siehe z.B. Adornos berühmtes Diktum: Es gibt kein Wahres im Falschen). Denn das in der Masse aufgelöste Individuum sei nur mehr eine Illusion. Die Antwort des Kapitalismus auf die Kritik bzw. den Wunsch nach Differenzierung und Entmassung ließ nicht lange auf sich warten, boten sich ihm doch neue Akkumulationsmöglichkeiten. Die Verschiebung dieser Kritik (Vereinnahmung) erfolgte in Form einer Ökonomisierung, (wir würden wohl eher von Kommodifizierung sprechen). "Bei der Befriedigung der Emanzipationsforderungen haben wir bereits gesehen, wie dieser Prozess funktioniert und wie Waren und Dienstleistungen erfunden werden, die ‚emanzipierend' wirken sollen."(477) Statt Massenfertigung gab es nun eine differenzierte Warenpalette mit kürzerem Produktlebenszyklus und schnellerer Veränderbarkeit. Daneben entwickelten sich auch neue Ansätze zu einer marktwirtschaftlichen Nutzung bestimmter menschlicher Eigenschaften, insbesondere die Personendienstleistungen und die Arbeitsbeziehungen unter dem Stichwort ‚ Humanisierung' (am Arbeitsplatz). Diese Antwort des Kapitalismus war jedoch zum Scheitern verurteilt, weil authentische (unverfälschte) Produkte nur außerhalb der Warenwelt gewonnen werden können. Sobald sie aus den ‚Authentizitätsreserven' ihren Weg in die Warenwelt gefunden haben, ist es mit ihrer einzigartigen Originalität vorbei, kurzlebige Begeisterungs- und Enttäuschungszyklen (A. Hirschmann) lösen sich und eine neue Ära des Verdachts wird eingeläutet. Paradigmatisches Beispiel hierfür ist die Geschichte der Ökoprodukte und der Verbraucherschutzbewegung. Wenn die Natur als Hort des Ursprünglichen und Ort des Authentischen empfunden wird, hat die Künstlerkritik zunächst auch einen Zufluchtsort gefunden. Mit der großflächigen Vermarktung von Ökoprodukten, unübersichtlichen Labeln und instrumenteller Ökowerbung (z.B. ein Kasten Bier für ein Quadratmeter Regenwald!) geriet diese Antwort des Kapitalismus erneut in eine Glaubwürdigkeitskrise. "Die Ökonomisierung sorgt so für neue Formen der Beunruhigung hinsichtlich der Authentizität von Dingen und Menschen, ob sie ‚authentisch' oder ‚inauthentisch' sind, spontan oder auf verkaufsstrategische Ziele zugeschnitten."(483) Deshalb entstand eine neue Form der Authentizitätskritik bzw. eine Neudefinition von Authentizität: "Die Definition des Inauthentischen als Serienfertigung und Differenz auflösende Standardisierung, der sich das Authentische des Singulären als Oppositionsprinzip gegen die Uniformität des Seriellen entgegenhalten ließ, wurde abgelöst von einer Definition, die in dem Inauthentischen die Reproduktion einer Differenz zu marktwirtschaftlichen Zwecken sieht, eine Kopie, der die Authentizität des Originals gegenüber steht."(486) Durch die manipulative Produktion einer vermeintlichen Differenz, dadurch also, "dass alles und jedes, als kapitalistische, profitorientierte Aneignung der Differenz, in eine Ware verwandelt wird, kann - wie z.B. bei Debord und (...) Baudrillard- als eine Inszenierung kritisiert werden, als Vernichtung aller ursprünglichen Lebenskräfte."(487) Die warenwirtschaftliche Einbeziehung der Differenz habe so dafür gesorgt, dass die gesamte Realität als Illusion und Inszenierung gebrandmarkt werden konnte: Die Illusion als letzte Form der Ware.
48. Die Neutralisierung der Kritik an der Inauthentizität und ihre verwirrenden Effekte
Die Authentizitätskritik, vor allem die ältere am zweiten Geist des Kapitalismus, unterlag einer Kritik, die für enorme Verwirrungen und Spannungen sorgte, die bis heute anhalten. Die radikale Dekonstruktion der Authentizitätsforderung entstand in derselben Zeit der 68er Bewegung wie die Revitalisierung der alten Authentizitätsforderungen, die als Illusion denunziert wird: "... als bourgeoises, reaktionäres, gar ‚faschistisches' Elitedenken; als Einbildung, ein ‚authentisches' Subjekt existiere vor allem für sich selbst; als naiver Glaube an das Vorhandensein eines ‚Ursprünglichen', dessen Erscheinungsformen angeblich mehr oder weniger treu sein könnten, mehr oder weniger authentisch in dem Sinne, wie man Wahrheit und Lüge (Täuschung) einander gegenüberstellt."(488) Diese Philosophie der Dekonstruktion, die mit den Namen Bourdieu, Derrida und Deleuze, jedoch nicht Foucault(!), verbunden wird, sei eine Radikalkritik an Authentizitätsnormen. Trotz unterschiedlicher philosophischer Grundausrichtung verbinde diese Kritik der gemeinsame Wille, mit dem "verantwortlichen Subjekt zu brechen, das angeblich vor der Alternative zwischen Authentizität und Inauthentizität als existenzieller Entscheidung stehe, die als reine Illusion bzw. Ausdruck des bürgerlichen Ethos denunziert wird."(ebd.) Mit einer solchen Grundsatzkritik habe der Dekonstruktivismus (unbeabsichtigt und unfreiwillig) das zentrale Paradigma der Netzwelt geschaffen. Denn in einer "vernetzten Welt erscheint ein Sich-treu-Bleiben als geistige Unbeweglichkeit; die Wahrheit, definiert als Identität zwischen Repräsentation und Original, (erscheint) als ein Verkennen der endlosen Variabilität der Netzeinheiten, die sich im Kontakt mit anderen Einheiten unablässig verändern, so dass keine ihrer Transformationen als Ausgangspunkt für die anderen Erscheinungen angesehen werden kann."(488) Gleichzeitig kritisieren B./C. den Dekonstruktivismus als philosophische und politische Theorie sehr scharf, weil deren Zielsetzung (zwangsläufig) unablässig ihren eigenen Äußerungsstandpunkt bedroht. "Man muss sich zwangsläufig fragen, auf welcher Grundlage überhaupt noch ein kritischer Blickwinkel angenommen werden kann, wenn alles nur noch Täuschung ist und Schauspiel; wenn jeder Verweis auf eine Außenwelt und mithin auf eine klassische Wahrheitsdefinition abhanden gekommen ist."(492) Die Vereinnahmung der Authentizitätsforderung einerseits und die Authentizitätskritik (Dekonstruktion) andererseits durch den Kapitalismus habe zu einem Wiedererstarken des Kapitalismus geführt -"das ist eines der Hauptargumente des vorliegenden Buches"-. Diese doppelte, widersprüchliche Vereinnahmung erkenne sowohl die Forderung nach Authentizität an ( wenn auch nur durch Kommodifizierung und Differenzierung, s.o.), schafft aber auch gleichzeitig eine Netz-Welt, in der sie eigentlich irrelevant sein sollte. Dieser Widerspruch führe zu grundlegenden existenziellen, psychologischen und ethischen Spannungen. Der zentrale Widerspruch in der Netzwelt besteht in einem Spannungsverhältnis zwischen sich widersprechenden Normen: Flexibilität und Individualität. Flexibilität setzt große Anpassungsfähigkeit voraus, wer einen hohen Wertigkeitsstatus anstrebt, muss polyvalent sein und darf nicht in seiner Spezialität verharren. Individualität muss jedoch genau diese Spezialität und Einzigartigkeit unter Beweis stellen . "In einer solchen Welt ist es zumindest fraglich, ob sich überhaupt ein Gleichgewicht finden lässt zwischen einem dauerhaften Ich, das stets von Erstarrung bedroht ist, und der unablässigen Anpassung an Situationserfordernisse, die das Risiko in sich birgt, sich in einem transitorischen Beziehungsgeflecht vollständig aufzulösen."(501) Aus diesem Widerspruch ergibt sich eine starke Unsicherheit in der Bestimmung der Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen. Wann ist die Beziehung uneigennützig, wann ist sie interessegeleitet? Was ist eine Freundschaftsbeziehung, was ist eine Geschäftsbeziehung? Eine Freundschaftsbeziehung gilt als authentisch, wenn sie uneigennützig ist, inauthentisch, wenn sie, wenn auch verborgene, egoistische Motive verfolgt. Diese Unsicherheit hängt zusammen mit der zunehmenden Auflösung der (alten) Trennung zwischen persönlichen und beruflichen Tätigkeitsfeldern und Eigenschaften. Und dem Zwang in der Netz-Welt, alles und jeden Kontakt für sich zu nutzen.
49. Schlussfolgerung: Ein Wiedererstarken der Künstlerkritik? Die gegenwärtige Lähmung der Künstlerkritik ist Folge ihres Erfolges oder ihres Scheiterns, je nach dem, wie der Prozess der Vereinnahmung durch den dritten Geist des Kapitalismus bewertet wird. (Wahrscheinlich ist es beides!) Ohne eine Neubestimmung der Forderungen nach Emanzipation und Authentizität, die von den neuen Formen der Unterdrückung (in der Netzwelt) und der Ökonomisierung(Kommodifizierung) ausgehen, stünde die Künstlerkritik ohnmächtig vor einer falschen Wahl: Entweder den Weg der Kritik seit dem 19. Jahrhundert fortzusetzen (Kritik an bürgerlicher Moral, Zensur, Einfluss von Familie und Religion etc.), Medienkritik üben, Verschwörungen aufdecken usw. Das Problem dieser Kritik ist, dass sie mangels Gegner ewig ins Leere läuft bzw. noch als ein weiteres Spektakel in das Kulturangebot inkorporiert wird. Oder die Kritik stellt ihre "Hellsichtigkeit" unter Beweis, warnt vor drohenden Apokalypsen und beklagt den Kapitalismus, unterschiedslos alles zu vereinnahmen. Und schlüpft so in das aristokratische, aber abgetragene Gewand des Pamphletisten, der sein einsames Bewusstsein gegenüber den verdummten Massen mit Würde trägt. Eine Wiederbelebung der Künstlerkritik könne nur stattfinden, wenn es eine Annäherung an die Sozialkritik gebe. Vor allem müsse die Sicherheit des Menschen als ein Emanzipationsfaktor hervorgehoben werden. "Alles, was heute die Arbeitsplatzsicherheit und -stabilität der Menschen stärkt, verschafft Freiräume und bietet Möglichkeiten, sich einer überzogenen Selbstkontrolle zu widersetzen und die vermehrt eingesetzten, neuen, vor allem computergestützten Kontrollinstrumente gerade angesichts des Autonomieideals des neuen kapitalistischen Geistes in Frage zu stellen."(508) Ebenso müsste die Mobilität als Norm und als unumstrittener Wert hinterfragt werden. Es wäre notwendig, das Konnexionstempo zu verlangsamen und Bewährungsproben hinauszuzögern. "Die Mobilität und Flexibilität der Arbeitnehmer darf (...) nicht nur mit einer weitreichenderen und billigeren Anpassung an die Firmenbedürfnisse gleichgesetzt werden, sondern muss so reguliert werden, dass ein Schutz der Mobilität möglich wird und der mobile Arbeiter einen Status zuerkannt bekommt."(510) Die Authentizitätskritik müsste sich hauptsächlich gegen die "Ökonomisierung der Differenz" richten, d.h. vor allem sich gegen die Ausdehnung der Marktsphäre wenden. In Anlehnung an M. Walzers ‚Sphären der Gerechtigkeit" könnte eine Liste gemeinschaftlicher Güter aufgestellt werden, deren Verteilung nach dem Marktprinzip gewöhnlich als unmoralisch gilt. "Zuallererst gilt es, die prinzipiell gleiche Würde aller Menschen zu verteidigen, die ihnen denselben Zugang zu Primärgütern gestattet."(512) Die Regelung dieser "Nachfrageseite", die eher aus dem Bereich der Sozialkritik stammt, könnte aber auch ergänzt werden durch eine Regelung der "Angebotsseite", die eher der Künstlerkritik zuzuordnen ist: Eine Ökonomisierung bestimmter Güter sollte prinzipiell ausgeschlossen sein, weil sie gegen die Würde des Gutes selbst verstieße (Menschen, Körper, Organe, Natur schlechthin).

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