Auf dem Weg zu einer Netzgerechtigkeit?


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40. In diesem Abschnitt werden verschiedene Maßnahmen und Vorschläge dargestellt, die nach Meinung der Autoren ungerechte Nutzformen der Mobilität kritisieren und das Ausbeutungsniveau in einer konnexionistischen Welt begrenzen wollen, indem neue Bewährungsproben in die projektbasierte Polis eingeführt werden. Dabei wäre die Entstehung von Strukturen einer projektbasierten Polis, die das Kräfteverhältnis in der Netzwelt legitimieren und beschränken, ein optimistisches Szenario. Ob sie Realität werden, hängt wohl auch davon ab, wie die Akteure mit ihren unterschiedlichen Handlungslogiken interagieren. Drei Hauptakteure werden vorgestellt: die neuen sozialen Bewegungen, eine Gruppe hoher Staatsbeamter, Politiker und Manager, die gegen die kapitalistischen Interessen und den Einfluss der Aktionäre weitgehend gefeit sind und Kapitalisten, die dem Imperativ der Kapitalakkumulation mit genügend Distanz begegnen.(417/418) "In der Tat könnten diese verschiedenen Akteure als eine treibende Kraft bei der Erprobung neuer Maßnahmen wirken."(ebd.) Obwohl diese verschiedenen Akteure divergierende Interessen (419) haben, treffen sie sich doch in der Gemeinsamkeit, dem opportunistischen und egoistischen networker Grenzen aufzuerlegen. Denn dieser schadet zwei Akteurstypen: zum einem dem Komplex (Unternehmen, Projekt, Staat, Institution), von dem er abhängt und Ressourcen bezieht, die er ohne Gegenleistung für sich behält und zum anderen den weniger mobilen Akteure, deren Ausbeutung und beschleunigte Ausgrenzung er verstärkt. Der Netzopportunismus lässt sich nicht mit den Regeln der marktwirtschaftlichen, der familienweltlichen oder der bürgerweltlichen Polis kontrollieren. In der Marktwelt existieren Strukturen, auf denen die Gültigkeit der Tauschbeziehungen beruht, z.B. Gewährleistung der Währungsäquivalenz oder Einhaltung der Verträge. Die profitträchtigen Netzkontakte fügen sich jedoch nicht systematisch den Marktformen, weil sie vertraglich gar nicht oder nur sehr unvollständig die Tauschbeziehungen erfassen. An deren Stelle tritt dann das Vertrauen, das eigentlich aus dem Wortschatz der Familienwelt stammt. Hier war es insofern einer Kontrolle unterworfen, weil die Menschen in enger Nachbarschaft miteinander lebten und so eine wechselseitige Kontrolle ausüben konnten. Die bürgerweltliche Polis basiert auf einer räumlichen Konzeption des Nationalstaates, der einen Rahmen setzt(e), in dem sich das "Unglück der Notleidenden und der Wohlstand der Glücklichen miteinander in Beziehung setzen ließ" und somit Beistandsmaßnahmen (statt bloßer Barmherzigkeit) im Sinne einer allgemeinen (bürgerweltlichen) Gerechtigkeit ermöglichte. Der Netzopportunismus hat die nationalen Fesseln längst gesprengt, ist enträumlicht und deshalb durch alte Kontrollformen nicht mehr kontrollierbar.
41. Einschub zum politischen Standort: Für B./C. ist die projektbasierte Polis ein "Gerechtigkeitsmodell", also "keine empirische Beschreibung der Zustände der Welt" (392). An vielen Stellen des Buches wird immer wieder betont, wenn nicht gar gewarnt, dass der geschichtliche Prozess kontingent ist und deshalb auch eine ganz andere Lösung denkbar ist, nämlich "dass sich die Lebensbedingungen der meisten Menschen zunehmend verschlechtern, dass sich die sozialen Ungleichheiten verschärfen und ein politischer Nihilismus immer weitere Kreise ziehen könnte"(566) Die im folgenden vorgestellten Maßnahmen und Vorschläge entstammen "reformistischen Strömungen" (Forderungen von sozialen Bewegungen werden in diesem Abschnitt auch nicht weiter erwähnt, womit ich nicht sagen will, dass diese nun unbedingt "revolutionär" wären!), weil weder "das Wesen der Transaktionen zwischen den Unternehmensakteuren,(...) die Profiterzielung noch (..) die Arbeitsorganisation" berührt werden. Diese Aspekte werden gewissermaßen wie eine black box behandelt, die einer anderen Logik gehorcht und auf die einwirken zu wollen in den Augen der Initiatoren diese Maßnahmen vergebens wäre."(423) Die Autoren kommentieren die reformistischen Vorschläge mit Wohlwollen, weil sie ihrem Gerechtigkeitsmodell entsprechen, weil sie eine Überwindung des Kapitalismus für unmöglich halten. (Siehe dazu noch einmal Punkt 16 im ersten Teil: Die zweite Kernthese (ebenso bedeutsam wie die erste) besteht in der Aussage, dass eine umfassende Kritik am Kapitalismus, die sich in gleichem Maße auf die vier Empörungsquellen bezieht, unmöglich ist (84). Denn auch die radikalsten Varianten der Kritik haben stets etwas gemeinsam mit dem, was sie kritisieren wollen. Deshalb komme es zu einer endlosen Dialektik von Kapitalismus und Kritik - "jedenfalls solange man am kapitalistischen System festhält, was mittelfristig wohl sehr wahrscheinlich sein dürfte."(86)) Unser politischer Standort ist wohl ein anderer, nämlich an der Utopie der Abschaffung des kapitalistischen Systems festzuhalten. Dieses Ziel ist aber nicht den Reformvorschlägen entgegen zu stellen, sondern wahrscheinlich nur zu erreichen, wenn sie (ernsthaft und ehrlich!) mitunterstützt werden und praktische Wege aufgezeigt werden können, wie über sie hinausgegangen werden kann. Diese an sich nicht neue Orientierung auf ein dialektisches Verhältnis von Reform und Revolution muss sich "nur" bewähren in einer neuen Netzwerkgesellschaft. (Ich glaube z.B., dass das Papier von Grottian, Narr und Roth ausgezeichnet in diese Orientierung passt!)
42. Grundsätzlich sollen die beabsichtigten Maßnahmen und Vorschläge, die aus dem Umfeld unternehmerischer und staatlicher Sozialpolitik einerseits und dem Management andererseits stammen, die mobile und flexible Netzwelt erhalten. Denn eine Unterbindung oder gar Rückentwicklung dieser Eigenschaften würde den "zentralen Autonomiebestrebungen und Flexibilitätserfordernissen entgegengesetzt sein".(422) Es kommt aber darauf an, sie gerechter zu gestalten, d.h. z.B. allen Menschen Mobilitätschancen zu bieten. "Die aktuellen Diskussionen um Begriffe wie "employability", "Kompetenz", "Aktivität", "Aktivitätsvertrag" oder auch "Basiseinkommen" verweisen auf die Möglichkeit, die Mobilitätsprobleme neu zu formulieren. Sie beinhalten einen neuartigen Kompromiss zwischen Autonomie und Sicherheit, wie er sich mit der Logik einer projektbasierten Polis vereinbaren lässt."(423) Die Vorschläge werden in drei Kategorien unterteilt: a) leichtere Erfassung der Projektbeteiligten, b) begründete Verfahren für gerechtere Entlohnungsprinzipien, c) Angleichung der jeweiligen Mobilitätsvermögen Zu a) Ein neuer Rahmen zur Leistungserfassung In der jetzigen Netzwelt werden viele Mitarbeiter nicht wahrgenommen und aufgrund ihrer marginalen Netzposition schlecht oder gar nicht entlohnt. Just-in-Time-Zulieferer, Franchising-Netze, Geldtransfer-Netze aus dem Banksektor und strategische Forschungsallianzen können sich hinter einem sog. "Vertragsschleier" verbergen und sich so den Kontrollen und Reglementierungen des Wohlfahrtsstaates und arbeits- und verbraucherrechtlichen Vorgaben entziehen (siehe "Transaktionskostenansatz" 425/426). Ein Franchise-Nehmer z.B. hat keinen Anspruch auf die Sozialschutzgarantien des Franchise-Gebers, obwohl er de facto ein Großunternehmen ist. An dieser Stelle könnte es sinnvoll sein, neue Rechtsformen zu finden und netzinterne, kollektive Interessenvertretungen als Instanz der Gegenmacht, die über rechtliche Legitimations- und Kontrollmittel verfügt, aufzubauen. Ein anderer Vorschlag ist die Idee von Charles Sabel, der schon Anfang der 80er Jahre ein bemerkenswertes Buch über das "Ende des Massenproduktion" geschrieben hat, über sog. constitutional orders den Netzwerken spezifische Regeln zu geben, also ein netzinternes Normsystem, das den Opportunismus begrenzen soll. Eine solche konstitutionelle Ordnung heterogener Einheiten des Netzes basiert auf einer starken wechselseitigen Abhängigkeit. Ein superintendent, der einer allgemeinen (anderen) Ordnung angehört, hat die Aufgabe, die Einhaltung der Regeln zu überwachen und die Kommunikation zwischen den konstitutiven Parteien zu erleichtern, er ist ihnen aber nicht vorgesetzt (governance). Eine solche erdachte Organisationsform setzt voraus, dass alle Leistungserbringer in einer Liste der zu einem Netz gehörigen Einheiten vermerkt werden, z.B. wie es im Abspann eines Filmes üblich ist. Zu b) Auf dem Weg zu gerechteren Gehaltsregeln Die Erstellung einer Liste aller Beteiligten müsste verbunden werden mit einer gerechteren Entlohnung. Diese dürfte sich nicht mehr nur auf den Arbeitslohn beziehen, sondern auf die employability, die als Grundlage für eine Umverteilung der Unterhaltskosten der Arbeitskraft zwischen dem Erwerbstätigen und seinem Arbeitgeber dient. "Die Verpflichtung zu einem Ausbau des Einstellungskapitals und die progressive Einführung eines Rechts auf employability würde dazu führen, dass komplexe Bewährungsproben - darunter auch Verhandlungen vor dem Arbeitsgericht - möglich würden."(429) Mit der Einführung dieses Rechts wäre die zentrale Gerechtigkeitsfrage, wer die Verantwortung für die Nicht-Wiederbeschäftigung bei Beendigung eines Projektes trägt, auch auf den Arbeitgeber umverteilt, der es offensichtlich nicht vermocht hat, die employability des Arbeitnehmers angemessen ( für eine andersweitige Beschäftigung) zu erhöhen. Um dieses Konzept zu stärken, wären Kompetenzbilanzen und Qualifikationsreferenzsysteme einzuführen bzw. auszubauen. (ebd.) Ein solches Konzept des Einstellungskapitals (Alain Supiot) sollte also das in der Person des Arbeitnehmers verkörperte Arbeitspotenzial mit berücksichtigen und deshalb statt des Begriffs ‚Arbeit' den weiter gefassten Begriff "Tätigkeit" verwenden, der ein Rechtsstatus eingeräumt werden sollte. (s. u. Aktivitätsvertrag) Der Begriff Tätigkeit (als neuer, erweiterter Arbeitsbegriff) kann verschiedene Aktivitäten umfassen (Familienarbeit, Fortbildungsarbeit, ehrenamtliche Arbeit, selbstständige Arbeit, gemeinnützige Arbeit usw.) und, sofern hieraus neuartige Sozialrechte entstünden, ließe sich leichter von einer Tätigkeit in die andere wechseln. Eine solche neue Rechtsform könnte als soziales Beurlaubungsrecht bezeichnet werden, das zu einer vollständigen Umgestaltung der Arbeitszeit führen würde. Statt einer starren und linearen Lebensplanung (Ausbildung, Erwerbsleben, Rente oder Tag, Woche, Monat, Jahr) wäre eine flexible Gestaltung der Lebensaktivitätszeit möglich. Ein derartiger "neuer Sozialpakt" ist natürlich nur denk- und durchführbar, wenn er von weiteren Maßnahmen begleitet wird. (Beiträge des Managements und der Organisationstheorie gelten überwiegend den Opportunismusgefahren in der Netzwelt, die spare ich mir an dieser Stelle, obwohl sie auch wichtig sind) Zu c) Auf dem Weg zu gleichen Mobilitätschancen Die Maßnahmen und Vorschläge, die in diesem Abschnitt vorgestellt werden, sollen vor allem "die Handicaps jener Menschen kompensieren, die ohne solche Kompensationsleistungen niemals im Stande wären, in einer Bewährungsprobe, in der der Mobilität ein zentraler Stellenwert zukommt, zu bestehen."(436) Ein erstes Beispiel sind die Wiedereingliederungsmaßnahmen, deren Ziel die Bekämpfung anhaltender Armut und der Stopp des Exklusionsprozesses . "Dadurch können Menschen ein minimales Einstellungskapital zusammentragen, d.h. die Fähigkeit entwickeln, erfolgreich die Bewährungsprobe der Kontaktherstellung zu einem ersten Projekt zu bestehen." Das Wiedereingliederungsgeld knüpft öffentliche Unterstützung an eine Gegenleistung und verfolgt das Ziel, wieder regelmäßige Arbeit zu finden. Zwar sei dies vielfach unrealistisch, aber trotzdem verdienstvoll, weil so der Marginalisierung ein Ende gesetzt werden könne. Ein weiteres Beispiel für die entstehende projektbasierte Polis ist die Subvention der Arbeitsplätze zur Berufseingliederung. (Kombilohn?) Ein anderer Vorschlag ist die enge Vernetzung zwischen Schule und Unternehmen sowie zwischen Arbeitsmarkt und Unternehmen. Hierdurch ließen sich neue "Selektionswege" (garantiert nicht meine Wortwahl!) gestalten. "Mit dem Begriff Aktivität wird versucht, über die eigentliche Erwerbsarbeit hinaus jede Art von Projekt oder Mobilität zu legitimieren.(...) Die Schaffung eines Aktivitätsstatus müsse garantieren, dass man frei seine Arbeit wechseln könne und auch eine tatsächliche Wahlfreiheit zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit besitze." (440) In Zeiten der Nicht-Erwerbsarbeit könnte ein stabiles Gehaltsniveau durch umlagefinanzierte Einkommensguthaben gesichert werden. Der Aktivitätsvertrag wäre ein Kompromiss zwischen Arbeitgeberforderungen nach flexiblen und mobilen Arbeitnehmern und Gerechtigkeitsnormen, die einer einseitigen Verteilung von Arbeitsplatzrisiken entgegenwirken. Er ist ein Umlagesystem für Risiken und für Phasen mit und ohne Anstellung, die mit Fortbildungs- oder auch ehrenamtlichen Arbeiten überbrückt werden. Dadurch werden die Arbeitsbeziehungen wieder sicher gestaltet werden. Das Basiseinkommen ist die finanzielle Entsprechung des Aktivitätskonzeptes, es soll der Entkoppelung von Wirtschaft und Gesellschaft entgegenwirken und dazu Einkommen und Arbeit voneinander trennen. "Das Baiseinkommen muss jedem selbst die Entscheidung überlassen, ob er arbeitet oder nicht, oder besser: für welche Betätigung er sich entscheidet, welche selbstständigen Aktivitäten (Firmengründung, Versuch atypischer, sozial bisher noch nicht anerkannter Aktivitäten) er für sich wählt."(442/443) Zum Schluss dieses Kapitels werden, m.E. etwas drangehängt, noch Maßnahmen vorgestellt, die die uneingeschränkte Mobilität der Finanzmärkte und der internationalen Unternehmen betreffen. Genannt werden die Tobinsteuer, auch die Einführung des Euro und die Zertifizierungspraxis der Unternehmen, die die Erfüllung bestimmter Kriterien (z.B. Umweltnormen) anzeigt.

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