Die Entstehung der projektbasierten Polis


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22. Eine weitere Kernthese der Untersuchung wird in diesem Abschnitt formuliert, dass wir nämlich gerade der Geburtsstunde eines neuartigen, gängigen Gerechtigkeitssinns beiwohnen. Dazu ist es notwendig, den Begriff der projektbasierten Polis genauer zu bestimmen und sie von den anderen Poleis abzugrenzen. Die Begriffe Netz und Projekt sind die beiden Kernelemente der projektbasierten Polis. Ausgehend von dem Grundgedanken, dass jede Polis einer spezifische Gerechtigkeitsordnung unterliegen muss, werden die Begriffe Netz, Netzwerkgesellschaft, konnexionistische Polis, Netz-Polis etc. verworfen. Denn das Netz an sich ist permanent im Fluss, dehnt sich aus, zieht sich zusammen und kennt keine formalisierten Zugehörigkeitskriterien. Ein Gerechtigkeitserfordernis kommt aber nicht völlig ohne Einheiten aus, die auf der Grundlage einer Raummetapher (repräsentierbare Einheiten) konzipiert werden.(151) Ein Netz allein ermöglicht keine Bewährungsproben und Äquivalenzen. Dies ist jedoch mit dem Begriff Projekt möglich. Er stellt eine Kompromissbildung zwischen Normen her, die sich antagonistisch zueinander verhalten: Auf der einen Seite der Erfordernissen, die sich aus der Netz-Konzeption ergeben, und auf der anderen Seite der Erfordernissen, Urteile zu fällen und legitime Ordnungen zu schaffen. Auf dem nahtlosen Netz-Geflecht beschreiben die Projekte nämlich unzählige, kleine Berechnungsräume, in denen Ordnungen erzeugt und legitimiert werden können.(151) Konkreter: Eine Bewährungsprobe in einer solchen Welt ist der Moment, in dem ein Projekt zu Ende geht und die Beteiligten nach einer neuen Beschäftigung Ausschau halten. Die projektbasierte Polis ist ein System aus Zwängen und Vorgaben , die einer vernetzten Welt Schranken setzt. Die Vernetzung selbst ist keine radikale Neuerung, sondern die in ihr enthaltene Mittlertätigkeit. (153)
23. Um Missverständnissen vorzubeugen wird den folgenden Ausführungen vorausgeschickt, dass sie zunächst ein naives, unkritisches Bild der projektbasierten Polis entwerfen, wie es von den Adressaten, denen diese Handlungsmaximen gelten, geglaubt werden soll. Die Beschreibung dieser Polis erfolgt auf drei Ebenen: - die Herausarbeitung des Äquivalenzprinzips - die Untersuchung der Gerechtigkeitsformen - die Naturdefinition der Polis. Das Äquivalenzprinzip, wie oben schon ausgeführt ( 9 u. 12), legt die Wertigkeit und Rangordnung der Menschen in der projektbasierten Polis fest. (In der industriellen Polis z.B. war/ist die Effienz ein zentrales Prinzip der Wertigkeitsprüfung.) Die Aktivität stellt in der projektbasierten Polis das generelle Äquivalenzmaß dar. Sie rückt an die Stelle der Arbeit und überwindet die Oppositionsbildung von Arbeit und Nicht-Arbeit, von stabilen und nicht-stabilen Arbeitsverhältnis, von finanzieller Beteiligung und ehrenamtlicher Tätigkeit. Ein neuer Arbeitsbegriff umfasst fünf Arbeitskategorien: Lohnarbeit, freiberufliche Arbeit, Hausarbeit, ehrenamtliche Arbeit und Bildungsarbeit. Aktiv ist, wer Projekte ins Leben ruft, sich in Netze eingliedern kann, schnell Anschluss an neue Projekte findet, in Kontakt treten und Beziehungen aufbauen kann. Engagement und Begeisterungsfähigkeit, Verfügbarkeit, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit, problemloser Wechsel von Tätigkeiten sind weitere hochwertige Eigenschaften. Aufhebung der Trennung verschiedener Sphären wie z.B. Privat-, Berufs und Mediensphäre, überall zu Hause sein und dennoch lokal verbindlich auftreten, kommunikativ, umgänglich offen neugierig, Meister der Selbstkontrolle, seine soziale Rolle nicht mechanisch wie ein Programm herunterzuspulen sind weitere notwendige Konfigurationen. Gleichzeitig(!) müssen diese Eigenschaften aber auch in den Dienst des Allgemeinwohls gestellt werden, Mitarbeiter müssen in ihrem Engagement gestärkt und durch Visionen begeistert und geführt werden, die employability gilt es immer zu vergrößern. Die Umkehrung dieser positiv besetzten Begriffe würde zu dem Begriff des Netzkillers führen. Er ignoriert die Basisregel der Wechselseitigkeit, ist kompromissunfähig, beharrt auf seinen Überzeugzungen, zeigt sich verschlossen, autoritär und intolerant. Er ist dem Sein verhaftet, immobil, gibt Sicherheitsinteressen und Statuspositionen den Vorrang. Der hohe Wertigkeitsträger der projektbasierten Polis ist so ungebunden, weil er sich von Der Last seiner Leidenschaften und Wertvorstellungen befreit hat und - anders als die unflexiblen, keine Widerspruch duldenden und auf der Verteidigung universeller Werte beharrenden Persönlichkeit - dem Anderen offen begegnet.(170) (Die uns Älteren bei den Jüngeren oft auffallende und manchmal ärgernde postmoderne Beliebigkeit der Meinungen - die stehen doch drüber, weil sie drin gestanden haben- hat ihren tieferen Grund/Sinn also darin, grundsätzlich nicht-kritisch zu sein. Denn eine solche Grundeinstellung, insofern sie stark einen festen Bezugspunkt der Kritik wählt, widerspricht den Imperativen der Anpassung, der Flexibilität und der Toleranz.) Denn die Anpassungsfähigkeit ist zweifellos der Schlüssel zum Verständnis des Netzes.
24. Die Gerechtigkeitsformen in der neuen Polis sind, ohne dass es an dieser Stelle noch einmal erwähnt wird, sehr vage und unausgereift. Nur grundsätzlich lässt sich sagen, dass eine Investitionsformel den Zugang zu hohen Wertigkeitspositionen an ein Opfer gebunden sein muss und so eine Soll-und-Haben-Seite konstruiert. Wer also großen Erfolg durch Ungebundenheit erlangt, verzichtet auf Stabilität und Sicherheit. (Lieber die Taube auf dem Dach, als den Spatz in der Hand!).
25. Die Frage, ob eine Polis in einer Definition der Natur (des Menschen) verankert ist, ist von grundlegender Bedeutung vor allem mit Blick auf die Gerechtigkeitsbelange(173). Grundsätzlich muss (in der Moderne) für alle Menschen in der Gesellschaft die Möglichkeit bestehen, zu einem höheren sozialen Status zu gelangen, vorausgesetzt sie tun das Notwendige und vor allem erbringen sie die dazu notwendigen Opfer (Investitionsformel). Das Netz ist eine harmonische Figur der natürlichen Ordnung, es ist die natürlichste Form der menschlichen Organisation.(174) Denn der Wunsch, in Kontakt zu anderen zu treten, ist eine grundlegende Eigenschaft der menschlichen Natur, er entspricht einer primären Neigung. Zudem ist das Bedürfnis nach Freiheit und Ungebundenheit eine grundlegende menschliche Eigenschaft, die durch und durch universellen Charakter besitzt.
26. Der Unterschiede zwischen der projektbasierten Polis und den anderen Poleis (s.o.) wird im nächsten Abschnitt detaillierter herausgearbeitet. Eine Darstellung unterlasse ich an dieser Stelle, weil sie sich meines Erachtens aus dem bisher Dargestellten schon zum guten Teil erkennen lassen. Wichtig erscheint mir im Kopf zu behalten, dass sie sich zwar einerseits diametral widersprechen, aber sich auch andererseits ergänzen können. So ist also eine bestimmte geschichtliche Periode nie durch eine bestimmte Polis allein gekennzeichnet, sondern basiert auf einer Kombination verschiedener Poleis.
27. Diesen Hauptabschnitt zusammenfassend werden die Veränderungen durch den neuen Geist des Kapitalismus auf die Alltagsmoral dargestellt. Dabei steht eine veränderte Einstellung zu Geld und Besitz sowie zur Arbeit im Mittelpunkt. Während der erste kapitalistische Geist einer Ethik des Sparens und der zweite einer Moral der Arbeit und der Kompetenz das Wort redete, ist der neue Geist von Veränderungen geprägt, die sowohl die Einstellung dem Geld als auch der Arbeit gegenüber betreffen.(205) Der Sparsinn ist jedoch nicht verschwunden, sondern richtet sich auf eine andere Art von Gut: der Zeit. Sie ist die Basisressource, die gut verwaltet werden will und deren Knappheit größten Anlass zur Sorge bietet. Besitz und Eigentum werden nachrangige Faktoren und es entstehen neuartige Mietverhältnisse und Leihobjekte mit befristetem Nutzungsrecht. Gerade in diesem Punkt unterscheidet sich der schwerelose Mensch der projektbasierten Polis von der traditionellen Figur des Bourgeois.(207) Das bedeutet allerdings nicht, dass es keinen Begriff von Besitz mehr gebe: im Gegenteil, der Kontaktmensch besitzt sich selbst, insofern er selbst das Produkt seiner eigenen Arbeit an sich selbst ist (mit sehr weit reichende Konsequenzen, siehe z.B. Gentechnologie). Während die Ausdifferenzierung zwischen Privat- und Arbeitsleben, zwischen Familie und Fabrik, zwischen persönlichen Ansichten und beruflicher Qualifikation die eigentliche Essenz des Kapitalismus darzustellen schien, führt der neue Geist des Kapitalismus sie wieder zusammen. In einer vernetzten Welt verschwindet die Unterscheidung zwischen Privat- und Berufsleben tendenziell unter dem Eindruck einer doppelten Verquickung einerseits zwischen den Eigenschaften eines Mitarbeiters und seinem Leistungsvermögen (Kompetenz) und andererseits zwischen persönlichem Besitz und gesellschaftlichem, von der Organisation besessenem Eigentum. Neben der tendenziellen Aufhebung der Trennung verändern sich auch Arbeitsbedingungen und -rhythmen sowie die Bezahlungsmodalitäten. Die sichere Lebensstellung mit relativer Aufstiegsgarantie und einer dazu gehörenden tief sitzenden Berufsmoral wird verdrängt durch serielle befristete Anstellungen, Bezahlungen auf Honorarbasis und einer Aktivität, die nicht mehr sorgsam unterscheidet zwischen spielerischer Aktivität und Berufstätigkeit. Rätselhaft scheint es , weshalb ein derartig gravierender Veränderungsprozess allem Anschein nicht auf ernsthafte Proteste gestoßen ist und sich diese neue Welt offensichtlich lautlos breit machen konnte. Diese Rätsel lässt sich lösen, wenn untersucht wird, wie sich der Kapitalismus in den letzten 30-40 Jahren transformiert hat und wie es ihm dabei gelungen ist, die gegen ihn gerichtete Künstler- und Sozialkritik durch einen kleinschrittigen Prozess der Verschiebungen aufzunehmen und sie so zu entwaffnen.

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