Psychosoziale Belastungen
Zurück
Gerade was diesen Bereich betrifft, gibt es eine Vielzahl von fragwürdigen Theorien, von der
Marienthal-Studie bis zur idealtypischen Phasentheorie von Kieselbach und Wacker. Danach gebe es
4 Phasen, die ein Erwerbsloser durchlaufe. Zunächst den Schock des Arbeitsplatzverlustes, danach
wird der Betroffene von einer Phase des Optimismus erfaßt. Bleiben seine Bemühungen erfolglos,
folge ein durch Geldsorgen, Langeweile, sinkendes Selbstwertgefühl und mit der Dauer der
Arbeitslosigkeit subjektiv wie objektiv ständig sinkende Aussicht auf Arbeit begründetes
weiteres psychisches Tief, die Phase des Pessimismus. In dieser Phase ist die Selbstmordgefährdung
besonders groß. Da ein psychisches Überleben mit einer solchen Befindlichkeit kaum möglich erscheine,
gehe diese Phase in ein Stadium des Gleichmutes, in Fatalismus über. Es wird behauptet, diese Phase
sei zum Überleben wichtig. Angesichts der Tatsache, daß dieser Fatalismus der Erwerbslosen ihre
Selbstorganisation und auch politische Mobilisierung verhindert, ist diese schicksalsgegebene
Rechtfertigung des Fatalismus selbst fatal. Mit dieser fatalistischen Einstellung werden die
Erwerbslosen auch nichts verändern, 4 Millionen Erwerbslose könnten schon etwas bewirken.
Auch die Zwangsläufigkeit dieses Modelles ist zu bezweifeln. Natürlich wird fast jede/r Erwerbslose
solche Phasen schon erlebt haben, aber wo bleiben jene, die Erwerbslosigkeit relativ gut bewältigen.
Oder jene, die ihre Arbeit als deprimierend erlebt haben usw. Die Verarbeitung der Erwerbslosigkeit
ist sehr stark von individuellen Einflüssen abhängig. Folgende Faktoren können angeführt werden,
die psychisch belastend wirken können: reduziertes Einkommen, Einschränkungen im Hinblick auf
soziale Kontakte und Freizeiterlebnisse, verringerte Möglichkeiten, seine Fähigkeiten einzusetzen
und zu entwickeln, Ansteigen psychisch unangenehmer und bedrohlicher Erfahrungen, z.B.durch
wiederholte Ablehnungen von Bewerbungen, Zukunftsungewißheit und anderes. Die persönliche
Verarbeitung der Arbeitslosigkeit wird erheblich beeinflußt durch Alter, Geschlecht,Familienrolle,
Dauer der Erwerbslosigkeit, das Ausmaß der finanziellen Belastungen, die Berufsorientierung,
Bildungsniveau, das allgemeine Aktivitätsniveau, soziale Unterstützung, soziale
Schichtzugehörigkeit und anderes. Laut Kieselbach sind folgende Erkrankungen von Erwerbslosen zu
benennen: Veränderungen des Blutdruckes und des Körpergewichtes, Störungen des vegetativen
Nervensystems, Schwächung des Immunsystems, Anstieg von Nervosität, Ängstlichkeit, Gereiztheit,
depressive Verstimmungen, Konzentrations- und Schlafstörungen, Zunahme psychosomatischer
Erkrankungen (Magen-Darm-Erkrankungen, asthmatische Beschwerden, Rücken- und Kopfschmerzen,
Gelenkrheumatismus), Zunahme von Suiziden und Suizidgefährdungen. Diese Liste ließe sich beliebig
fortsetzen. Gerade an diesem Punkt wird unendliches Leiden in der Literatur bildlich, eine
Steigerung der Dramatisierung ist nicht möglich. Deprivation, Gleichgültigkeit, Interessenverlust,
Neigung zu Selbstentschuldigungen, Selbstunsicherheit, Störung des Kritikvermögens. Nahezu alle
Forschungsergebnisse bekräftigen, daß Erwerbslosigkeit mit einer Vielzahl von Symptomen
psychologischer Verunsicherung verbunden ist: Gefühle der Nutz- und Wertlosigkeit, Fehlen von
Zeit- und Zielstrukturen, Depressionen, Angst, Verringerung bzw. Zerstörung des Selbstbewußtseins
und Selbstwertgefühls, Schuldgefühle und -zuschreibungen, soziale Isolation,Vereinsamung,
familiäre Spannungen, sozialer Abstieg, Stigmatisierung, Kontaktschwierigkeiten, Resignation,
psychosomatische Beschwerden, Ansteigen psychisch unangenhmer und bedrohlicherErfahrunge,
Zukunftsungewißheit, erhöhte Anfälligkeit für Krankheiten, emotionale Labilität,
Schlafstörungen, Apathie, Resignation und die Spitze des Eisberges: Realitätsverlust infolge
der Tendenz "sich eine eigene (Schein-)Welt aufzubauen und unsoziale Verhaltensweisen
zuzulassen".Zentrale Belastungsfaktoren der Erwerbslosigkeit seien (Sozialmagazin 1997,Heft 4):
finanzielle Einschränkungen, Zukunftsungewißheit, Probleme mit der Verwendung und Strukturierung
der Zeit, Verlust von Anregungen, sozialer Anerkennung und persönlichem Selbstwert,
eingeschränkteUmweltkontrolle und Veränderungen von sozialen Beziehungen. Vieles mag übertrieben
sein und von der Wertewelt der Mittelschicht beeinflußt, Tatsache ist, daß
"Glückliche Arbeitslose" in dieser Gesellschaft äußerst selten sind. Erfahrungen in
einem niedrigschwelligen Erwerbslosenprojekt zeigen, daß Langzeiterwerbslose vor allem mit
Geldsorgen,Isolation, geringerem Selbstwertgefühl, Sucht und Perspektivlosigkeit zu kämpfen
haben.Auch jene Erwerbslose, die sich in ehrenamtliche Arbeit stürzen, werden ihre Geldprobleme
und die Zukunftsungewißheit nicht los. Da kann Arbeit umbewertet werden (z.B. in
Beziehungsarbeit),was zählt ist die Bezahlung der Arbeit und bezahlte Arbeit wird immer
knapper. Das macht vielehoffnungslos. "Arbeit ist die beste Medizin" ist folglich das Ergebnis
der Studie "SozialeLage und Gesundheit" in Berlin-Hohenschönhausen. Angesichts der Tatsache,
daß es immer weniger Normalarbeitsverhältnisse gibt und die prekäre Beschäftigung zunimmt,
ist diese These fatal. Leiharbeit, Minijobs, Scheinselbständigkeit - die Hartzer Front- sind
die Zukunftsrealität der jetzt Erwerbslosen. Viele werden in die Krankheit flüchten. Viele
gerade Langzeiterwerbslosewerden den Anforderungen nicht gewachsen sein. Gerade
Professionellen in der sozialen Arbeit ist die Zeitstrukturierung der Erwerbslosen
wichtig. Der Wechsel von Arbeit und Freizeit geht verloren. Erwerbslose haben viel
Freizeit, aber wenig Geld. Trotz großem Kontingent an freiverfügbarer Zeit müssen
Erwerbslose viele Freizeitmöglichkeiten einschränken oder aufgeben.Die Sozialkontakte
werden reduziert, der Handlungsraum eingeengt, es besteht die Gefahr der Abkapselung.
Freizeit ist in dieser Gesellschaft zumeist mit Konsum verknüpft, den sich Erwerbslose
nicht mehr leisten können. Die Zeit wird zu einem umstrukturierten Kontinum ohne
Abwechselung und ohne Besonderheiten. Die freie Zeit wird zum Problem. Vielen
Erwerbslosenn fällt die Decke auf den Kopf, weil sie gezwungen sind, zu Hause zu bleiben.
Der Tagesablauf entstrukturiert sich, die Zeit wird totgeschlagen vor dem Fernseher
mit der Bierdose in der Hand,wie das Klischee besagt. So stellt man sich den typischen
Arbeitslosen vor. Auch die Sozial-pädagogen. Das es Erwerbslose gibt, die mit Arbeit
eingedeckt sind, können sie sich nichtvorstellen. Aber es gibt sie und ihre Zahl wird
steigen. Mit der Abnahme bezahlter Arbeit nimmt die unbezahlte Arbeit zu. Viele Projekte
leben davon. Auch hier ist ein Umdenken notwendig.Für viele ist die Arbeit Ablenkung von
der Leere, die sie in ihrer Freizeit empfinden. Viele besitzen nicht die Fähigkeit, freie
Zeit sinnvoll auszufüllen. Deshalb wäre es die Aufgabe der Gesellschaft, den Erwerbslosen
bei der Bewältigung dieses Zeitüberschusses zu helfen. Dazu sind Erwerbslosenzentren
notwendig. Aber nein, es wird gefordert, ständig nur Bewerbungen zu schreiben und
der Erwerbsarbeit nachzulaufen. Oftmals ein sinnloses Unterfangen, das zusätzlich
frustriert.Erwerbslose müssen aufgebaut werden, Anerkennung und nicht Enttäuschung
erhalten, erst dann werden sie auch die Erwerbslosigkeit gut bewältigen, die
psychosozialen Belastungen um einvielfaches geringer.
Zurück