Schlusswort von Boltanski/Chiapello
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50. Einleitend wiederholen B/C ihre zentralen Thesen für die Erstellung einer "Axiomatik des
Veränderungsmodells"
1. "Der Kapitalismus muss die für die Produktion und den Fortgang der Geschäfte
notwendigen Personen geistig an sich binden." Da der Kapitalismus eng mit den bürgerlichen
Freiheitsversprechen verbunden ist und er ohne das "faktische Engagement der Arbeiter" nicht auskommt,
muss er akzeptable und attraktive Gründe bieten, die ein Engagement jedenfalls eines Teils der
ArbeiterInnenklasse rechtfertigen. "Diese Gründe bündelt der Geist des Kapitalismus" (518) Daraus
folgt logisch
2. "Der Geist des Kapitalismus bedarf zum Zweck der Mobilisierung einer moralischen
Dimension". Den Menschen muss es möglich sein, sich z.B. auf Gerechtigkeitsprinzipien zu berufen und
Widerspruch gegen Bedingungen, die der Kapitalismus ihnen auferlegt, einzulegen. Also die Kritik
herausfordert und mit-einschliesst. Die Kritik geht notwendigerweise über die grundlegende Ratio der
kapitalistischen Gesellschaft, den homo oeconomicus und die Unersättlichkeit des
Akkumulationsprozesses hinaus. "In seinem Geist umfasst der Kapitalismus also in gewisser Hinsicht
auch seine eigenen Kritik, da er die moralischen Prinzipien integriert, auf deren Grundlage die
Menschen Kritik äußern, wenn er die Werte, die er sich zu eigen macht, nicht respektiert." (520)
3. "Für seinen Fortbestand muss der Kapitalismus Unersättlichkeit sowohl stimulieren als auch
bremsen". Warum er stimulieren muss dürfte klar sein. Bremsen muss er deswegen, weil dies einige der
Wertigkeitsordnungen des Geistes (u.a. Erhalt von Bewährungsproben, Verlässlichkeit,
Vertrauensschutz) gebieten.
4. "Der Geist des Kapitalismus lässt sich nicht auf eine Ideologie
verkürzen im Sinne einer Illusion, die keinerlei Einfluss auf die Welt hat". "Der Kapitalismus",
schreiben B/C, "muss also in gewissem Maße seine Versprechen einlösen". Einige der Kritiken haben
fürs Kapital konkrete Folgen. Es kann nicht uferlos, grenzenlos, alle einmal ausgehandelten Regeln
und Einhegungen des Akkumulationsprozesses aushebelnd, agieren. Allerdings, die sei an dieser
Stelle nicht unerwähnt, unterliegen diese Einhegungen auch Verschiebungen in veränderten
Bewährungsproben, wenn das Machtgefälle zugunsten des Kapitals sich verändert, wie B/C in den
vorhergehenden Kapiteln dargelegt haben.
5. Die Kritik kann sowohl zum Motor der Veränderung des
kapitalistischen Geistes (und seiner Bewährungsproben) werden wie auch substanziell das Tempo und
die Art des kap. Akkumulationsprozesses beeinflussen. Dabei bezieht die Kritik ihre Kraft aus der
"Empörung", deren vier Hauptquellen die Forderungen nach Befreiung, die fehlende Authentizität,
die Zurückweisung des Egoismus und die Stärkung der Solidarität sowie die Erfahrung des Leidens
unter den Auswirkungen des Systems.
Die Etappen des Veränderungsprozesses
51. Im Zuge der in dem
Buch ausführlich dargestellten Veränderungen in den 60 er und 70 er Jahren kommt es in den 80 er
zu einer langsamen Auflösung des Kompromisses zwischen Industriewelt und politischem
Gemeinwesen. B/C schreiben: "In einer ersten Phase, zu Anfang der 70 er Jahre, schien der
Kompromiss zwischen Industrie und Bürgerschaft gestärkt aus der Kreise hervorgegangen zu sein.
Als die Forderungen allerdings nicht verstummten, nahmen die Arbeitgeber eine Reihe von
Verschiebungen vor, die dazu führte, dass die Sicherheitsleistungen, die zu Anfang der Periode
gestärkt worden waren, zehn Jahre später dank erfolgreicher maßnehmen zugunsten einer
allgemeinen Flexibilisierung zurückgenommen wurden. Der Kompromiss zwischen Industrie und
politischem Gemeinwesen wurde im Zuge dieser Konflikte seit Mitte der 80 er Jahre faktisch sehr
geschwächt und hat einen Großteil seiner Legitimität eingebüßt. Dieser Zeitabschnitt ist
darüber hinaus geprägt von einem beträchtlichen Machtzugewinn multinationaler Unternehmen, die
sich umstrukturierten um global handeln zu können und ungebunden zu sein, d.h. möglichst
wenig von ihrem jeweiligen geografischen Standort abhängig zu sein. Das wiederum führt zu
einer Konsolidierung von Wirtschaftskonzernen, die gegenüber staatlichen Forderungen viel
autonomer sind. Während er zweite Geist des Kapitalismus noch in einer Zeit herrschte, als
die Dynamik von nationalen Unternehmen ausging, die auf einem Binnenmarkt ein endogenes
Wachstum anstrebten, was eine Stabilisierung des Sozialgefüges über ein landesweites System
der ‚Industriebziehungen' unter staatlicher Aufsicht rechtfertigte, hat sich der neue
Kapitalismus von dem Staat gelöst." (536-37) Die hieraus erfolgten Verschiebungen in den
Bewährungsproben, bzw. die Verschiebungen der Koordinaten der Bewährungsproben waren jedoch
nicht das Resultat eines ‚Großen Plans', der von einem "geheimen Gremium" (BC) entwickelt
worden ist, sondern schlicht und einfach das Ergebnis der international ausgedehnten
Konkurrenz. Zu den Verschiebungen der Koordinaten der Bewährungsproben hat die Künstlerkritik
entscheidend zu beigetragen und die Sozialkritik weiter in den Hintergrund gedrängt (z.B.
die Betonung der Selbstkontrolle an die Stelle von externer Kontrolle im Zuge der
Zugeständnisse von mehr Autonomie). Des weiteren diente "die Künstlerkritik auch als Hebel
zur Trennung von Kapitalismus und Staat", schreiben B/C (Rekurs auf den Freiheitsbegriff,
Kritik der bürokratische - staatlichen Gängelungen bis hin zu einer Kritik an scheinbar
rückwärtsgewandten Streikforderungen z.B. des öffentlichen Dienstes nach Erhalt von
Solidargemeinschaften). Das Festhalten der Gewerkschaften an den Sozialstaatskompromissen
und - regelungen mitsamt seinen ínstitutionalisierten Bewährungsproben, dem Aushandeln von
Kompromissen mit den nationalen Großunternehmen wird dann obsolet, wenn sich
Großunternehmen in viele kleine netzwerkförmig verbundenen Firmenkonglomerate mit
zahlreichen Firmen im Ausland aufgliedern, "unsichtbar" (BC) werden. Besonders die
Sozialkritik und ihre institutionellen Formen sind nicht so mobil wie das Kapital,
resümieren B/C (548)
Die Folgen des Wiedererstarken des Kapitalismus
52. Die "Befreiung von der Verpflichtung auf das Allgemeinwohl, die bis dahin der herrschende Geist
des Kapitalismus forderte, fördert zwar eine ungezügelte Akkumulation. Sie hat aber auch
zerstörerische Folgen", schreiben B/C und folgen im weiteren in der Argumentation Polanyi, der
aufgrund seiner historischen Analyse in der Umbruchsituation des Aufkommens des englischen
Kapitalismus von der Notwendigkeit der "Einbettung" des Kapitals sprach, um einer ungezügelten,
letztendlich selbstzerstörischen Akkumulation Einhalt zu gebieten. Im Sinne des neuen Geistes des
Kapitalismus gefährde dieser u.a. durch die zunehmende Armuts-Reichtumsschere und Ausbreitung von
Zukunftsängsten seine eigene Grundlage, nämlich die größtmögliche aktive Teilnahme von Akteuren.
Und der Kapitalismus kommt aus diesem Paradox nicht raus: "Obwohl der Akkumulationsprozess seine
eigene Norm darstellt, muss er zu seinem Fortbestand (...) fest mit einem Sozialverband verwachsen
sein, den er unablässig zerstört, wenn die Logik, die ihn antreibt, jeder externen Kontrolle
entzogen ist". (550) Die "gegenwärtige Krise des Staates" habe sehr viel mit der
"Internationalisierung der Großunternehmen" zu tun. Der Kapitalismus werde in vielen Staaten immer
mächtiger dafür die Staaten immer schwächer. Wenn jedoch der Kapitalismus den Lebensstandard der
Ärmsten nicht erhöht gerate er in eine Glaubwürdigkeitskrise. In den alten Zentren sei dies
zunehmend der Fall, aber durch einen neuen Zustrom von Konsumenten und Produzenten aus der 3. Welt,
den Schwelländern und den ehemaligen kommunistischen Ländern könne sich derzeit das Kapital im
Zuge der Globalisierung (die B/C an dieser Stelle so nicht thematisieren) der Kritik entziehen.
In den 90 er Jahren ist es in den europäischen Zentren zu einem Wiedererstarken der Kritik
gekommen, allerdings "oftmals zuerst von einer anachronistischen Position aus. Die Gegenwart wird
dabei an den Idealen gemessen, die sich in der Vergangenheit bewährt haben. Genauer gesagt, tritt
die Kritik in Gestalt einer konservativen Verteidigung der institutionalisierten
Bewährungsproben auf" (BC 557). In einem zweiten Schritt hat dann diese Kritik in Frankreich die
Verschiebungen der Bewährungsproben zur Kenntnis genommen und fokussiert sich u.a. auf die
Verquickung der Sozialkritik mit der Kritik aus der angelsächsischen Menschenrechtsbewegung.
Diese stellt z.B. den "Imperativ der Nicht-Diskriminierung beim Zugang zu den öffentlichen
Gütern" in den Mittelpunkt. Allerdings hinkt bei dieser Horizonterweiterung der Sozialkritik
inclusive der Herausbildung einer neuen Protestkultur die Kritik wieder dem Kapitalismus
hinterher. Durch das Outsourcing beschleunige sich der Prozesses der Internationalisierung der
Wirtschaftsbeziehung zwischen und innerhalb der multinationalen Konzerne. Eine entsprechende
"Internationalisierung der Kritik" fehle hier aber noch , beklagen B/C: "Der Kapitalismus
internationalisiert sich leichter und schneller als die Bewegungen, die sich ihm
entgegenstellen und deren Einigung eine langwierige und schwierige Anpassung sowohl der
Klassifikationsformen voraussetzt, mit denen sich die Menschen identifizieren, als auch der
Werte, die sie erst mobilisieren." (560) Auf den allerletzten Seiten verlassen B/C diese
Ebene der Mühen des Aufbaus von internationalen Kritikbeziehungen und wenden sich allgemein
noch mal der Gestaltung neuer Gerechtigkeitsstrukturen im Rahmen der projektbasierten Polis
zu. Für B/C ist die Polis die neue Vertreterin des Allgemeinwohls, besonders an den
Stellen, wo der Staat sich zurückgezogen hat und das Kapital keine Grenzen bzw. Zügel im
seinem Expansionsstreben auferlegt bekommt. Die Polis als "Macht einer Gruppe von
Akteuren, die auf einer stabilen Welt von Strukturen und Objekten basiert" (563) kann auch
eine neues Kategoriensystem kreieren, was an die Stelle überholter Kategorien veralteter
Bewährungsproben tritt. Diese Polis kann sich in seiner sozialen Zusammensetzung aus
völlig verschiedenen gesellschaftlichen Clustern bilden und völlig unterschiedliche
politische, soziale oder ökologische Ziele und Wertigkeitssysteme formulieren.
Entscheidend ist Freiwilligkeit und Autonomie im Entstehungsprozess und die Orientierung
auf das Allgemeinwohl im gesellschaftspolitischen Handeln; insofern klassisch griechisch
dieses Konstruktion. B/C räumen in ihrem Schlusssatz selbstkritisch ein, dass die Polis
"nur eine der denkbaren Lösungen der kapitalistischen Ideologiekrise" darstelle. Die
Kritik müsse in der Ära des neuen Geistes ihr "Mobilisierungsvermögen" auf die fehlende
Ordnung in der gegenwärtigen Phase des kapitalistischen Akkumulationsprozesses
konzentrieren (566). Indirekt konstatieren hier B/C, dass angesichts zunehmender sozialer
Ungleichheiten und eines neuen "politischen Nihilismus" (B/C) das Polismodell im neuen
Geist des Kapitalismus allerdings auch sehr schnell an dem unzügelbaren und "entbetteten"
Kapitalismus scheitern kann - einfach weil er nicht mehr der "bürgerweltlichen Ordnung"
(B/C) nebst eines politischen Gemeinwesens bedarf.
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