Selbstorganisation von Erwerbslosen - Schwierigkeiten und Perspektiven
Zurück
Nun ja, die Prekarisierung. Seit den 90er Jahren erfassten die Veränderungen in der Arbeitswelt
auch die Linke. Mit dem Begriff der Prekarisierung wurden die neuen Verhältnisse analysiert.
Besonders die "postmodernen Youngsters", wie der Politikwissenschaftler Robert Kurz sie betitelte,
sind von prekären Arbeitsverhältnissen betroffen. Diese Kinder der Mittelschicht,
die zu großen Teilen im Medien- und Kulturbereich arbeiten, sind aber nicht das Problem
der Herrschenden, denn ihre Lust am kulturindustriellen Mitmachen korrespondiert meistens mit
ihrer Unlust an radikaler Gesellschaftskritik.
Das gesellschaftliche Problem ist seit einiger Zeit wieder mal die sogenannte Unterschicht,
das "abgehängte Prekariat". Die Medien machen als dieses Prekariat hauptsächlich Arbeitslose
und ArbeiterInnen aus, die gering qualifiziert, politikverdrossen und oftmals "Protestwähler" sind.
Schon 1997 hatte der damalige FDP-Bundesvorsitzende Wolfgang Gerhardt vor einer "unteren Schicht von
Leistungsempfängern mit allen Anfälligkeiten für Extreme" gewarnt. Bei einem Blick zurück in die
Geschichte lassen sich Parallen erkennen: Mitte 19. Jahrhundert wurden diese unteren sozialen
Schichten "gefährliche Klassen" genannt, die mit ihrem Leben - gewollt oder ungewollt -
jenseits der Gutbürgerlichkeit die gesellschaftliche Ordnung zu stören drohten. In den USA
heute werden sie laut dem Soziologen Zygmunt Bauman ("Unbehagen in der Postmoderne") auch als
"kriminelle Klassen" bezeichnet, nach dem Motto "Armut ist ein (selbstverschuldetes) Verbrechen".
Die Debatte in der deutschen Öffentlichkeit diffamierte Arbeitslose und Hartz IV-EmpfängerInnen
als Sozialschmarotzer oder Faulenzer. Im Clement-Papier "Vorrang für die Anständigen" wurden
Arbeitslose gar "Parasiten" genannt.
Was können Erwerbslose gegen diese Stigmatisierung tun?
Die heutigen Bedingungen für Protest und Organisierung sind andere als 1968. Den jungen Menschen
standen damals noch viele Türen zum Aufstieg offen. Bei den Sozialprotesten, insbesondere 2003/2004,
waren viele Ältere dabei, die keine Chancen mehr auf eine gesellschaftliche Integration über Arbeit
zu erwarten haben - sie scheinen die Überflüssigen der Gesellschaft zu sein. Ebenso wurden die
Kulturkritik der 68er und ihre Forderungen nach Emanzipation, Autonomie und Authentizität vom "neuen
Geist des Kapitalismus" (siehe Literaturangabe am Ende) aufgesogen. Um dies zu verdeutlichen:
Niemals wurde so viel über Selbstorganisation gesprochen, wie seit Beginn der 90er Jahre, den
Zeiten zunehmenden Sozialabbaus. Die Herrschenden haben sich nämlich inzwischen diesen Begriff
angeeignet, ein Begriff, der vor allem von der linken Alternativökonomie geprägt wurde:
Selbstorganisation ist in die neuen Managementkonzepte eingeflossen und wurde somit für den
Verwertungsprozess funktionalisiert. Eine Entsprechung fand diese Ideologie in der Ich-AG.
Trotz des Begriffsklaus besteht für Erwerbslose aufgrund der Herrschaftsverhältnisse tatsächlich
die Aussicht auf Verbesserung ihrer Lebenssituation nur, wenn sie sich "selbst organisieren".
Dabei organisieren sich Erwerbslose erst, wenn der Leidensdruck groß ist, sie aber gleichzeitig
noch ausreichend über soziale Kontakte und Wissensressourcen verfügen, um sich auch in kollektive
Zusammenhänge begeben zu können. Daher sind in der Erwerbslosenszene auch auffällig viele
AkademikerInnen aktiv, meistens schon älteren Semesters und mit geringen Chancen auf dem
Arbeitsmarkt.
Die bundesweiten und lokalen Zusammenschlüsse von Erwerbslosen sind eher schwach.
Das Scheitern von Erwerbslosengruppen hat interne und Ursachen. Erwerbslose sind wie die
Gesellschaft an sich eine heterogene Gruppe, ein Grund für viele Streitereien. Manchen ist
es nur wichtig, wieder Arbeit zu finden, andere wollen das Recht auf Faulheit. Während einige
hauptsächlich soziale Kontakte suchen, wollen andere politisch arbeiten. Die Belastungen und
Probleme von Erwerbslosen, beispielsweise auf psychosozialer Ebene oder durch den Ämterstress,
können dazu führen, dass sich die Mitglieder in den Gruppen gegenseitig herunterziehen.
Da Erwerbslose aufgrund ihrer finanziellen Situation von der Teilhabe am öffentlichen Leben
weitgehend ausgeschlossen und zudem oftmals isoliert leben, fehlt ihnen der soziale und kulturelle
Ausgleich.
Extern besteht häufig das Problem, dass Erwerbslosengruppen kaum finanzielle Unterstützung erhalten.
Es ist politisch nicht erwünscht, dass sich Erwerbslose kollektiv organisieren, sie sollen gefälligst
individuell und permanent auf Arbeitssuche sein. Und sie sollen Erwerbslosigkeit nicht als
strukturelles Problem begreifen, deren Ursachen und Folgen politisch zu bekämpfen sind,
sondern als individuelle Schwäche, die Schuld bei sich selbst suchen. Und das tun auch die
meisten, sie schämen sich, rennen jeder Arbeit nach und/oder werden fatalistisch:
man kann ja sowieso nichts machen.
Es gibt zwar viele individuelle Widerstandformen unter Erwerbslosen, z.B. Tricks,
wie man einen Ein-Euro-Job umgeht, oder das Fahren ohne Fahrschein. Das Problem ist eher
die kollektive Organisierung und der kollektive Widerstand. Dabei gibt es nur einen Weg:
keine StellvertreterInnenpolitik, sondern Politik der ersten Person, das heißt Selbstorganisation.
Bei den Sozialprotesten der letzten Jahre gab es solche Ansätze. Aber nur Flugblätter zu schreiben
und Demos und Veranstaltungen zu organisieren, reicht nicht. Erwerbslose brauchen Anlaufstellen,
wo sie sich austauschen und gegenseitig unterstützen können. In Neukölln organisieren wir jeden
Mittwoch einen Erwerbslosentreff. Wir brauchen viele solcher Stadtteilgruppen und
Unterstützungsnetzwerke. Aus dieser Basisarbeit von unten und einer Vernetzung kann Widerstand
erwachsen.
Dabei geht nicht nur um den Kampf gegen Hartz IV. Der Alltag der Hartz IV-Betroffenen wird
auch durch Privatisierungen, durch eine unsoziale Verkehrs-, Gesundheits-, Bildungspolitik
und vielem mehr fremdbestimmt. In der Arbeitswelt und auf den Ämtern herrscht ein Klima der
Angst und der Verunsicherung. Es gibt eine große Unzufriedenheit in der Bevölkerung, da muss
man anknüpfen. Dafür brauchen wir eine starke Gegenöffentlichkeit und Diskussion über Alternativen,
z.B. eine breite gesellschaftliche Debatte über die Zukunft und Neubewertung der Arbeit sowie
über die Entkopplung von Arbeit und Einkommen. Das bedingungslose Grundeinkommen allein reicht
nicht. Wir müssen über den Tellerrand von Staatsfixierung und Kapitalismus hinausschauen.
In Zeiten der Verunsicherung brauchen die Menschen Sicherheiten, und anstatt der
"Eigenverantwortung" im Sinne von "Jede/r ist des eigenen Glückes Schmied" brauchen wir
wirkliche Autonomie. Dafür lohnt sich der Kampf. Dem neoliberalen Motto: "Macht was ihr wollt,
aber seid profitabel!" und dem Motto der Montagsdemos "Wir sind das Volk" setze ich Ton Steine
Scherben entgegen: "Macht kaputt, was euch kaputt macht!" Rock`n Roll.
Anne Seeck
Mittwochs 12-16 Uhr Erwerbslosentreff in der Lunte, Weisestr.53, U-Bhf.
Boddinstr., Neukölln
Literaturtipp: Luc Boltanski, Eve Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus,
UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2006
Zurück