Die Wiedergeburt der Sozialkritik


Zurück

Der neue Geist des Kapitalismus und die neuen Formen der Kritik

34. Im 3. Teil werden die beiden Kritikformen am Kapitalismus, die Sozial- und Künstlerkritik, wie sie sich in den 90er Jahren entwickelt haben, dargestellt. Der Kapitalismus habe, so B./C., es in den 70er und 80er Jahren durch eine Serie von Verschiebungen, wie sie im 2. Teil analysiert wurden, vermocht, "die alte Welt des 2. kapitalistischen Geistes" aus den Angeln zu heben, so dass die soziale Welt nur noch als Auflösungsprozess und als Chaos wahrgenommen wird. Zugleich erscheine es so, als könne eine Gesamtinterpretation nicht mehr vorgenommen werden. Mit der Entstehung des Netz-Begriffes jedoch entsteht eine neue konzeptuelle Darstellungsform. Seit den 90er Jahren stehen Künstler- und Sozialkritik auf unsicherem Boden. Die Sozialkritik ist jedoch dabei, diesen Zustand der Lähmung zu überwinden, indem sie neue Bewertungsformen- und Prinzipien der projektbasierten Polis beginnt zu formulieren. Die Künstlerkritik scheint nach wie vor sprachlos zu sein, weil der neue Geist des Kapitalismus einen Teil ihrer Kritik für sich vereinnahmt hat. Die Wiedergeburt der Sozialkritik: Von der Ausgrenzung zur Ausbeutung(380-413)
35. Der Begriff der Ausbeutung war über hundert Jahre der Dreh- und Angelpunkt der Sozialkritik. In der marxistischen Kritik war er gebunden an die Klassenrelationen in der Arbeitswelt, Ausbeutung war vor allem eine Ausbeutung durch die Arbeit. Diese Thematik ist in den 80er Jahren in der Sozialtheorie- und Kritik jedoch zunehmend vernachlässigt worden und neue Kategorien sind entstanden, um der Empörung über wachsende Armut und Ungleichheit Ausdruck zu verleihen. Der Begriff der Ausgrenzung (Robert Castel spricht von Ent-bindung/ désaffiliation) steht seither stärker im Zentrum der Kritik. War er ursprünglich auf Personen bezogen, die auf Grund eines Handicaps am gesellschaftlichen Leben nicht teilnehmen konnten, ist er heute gebräuchlich für alle Opfer der neuen sozialen Armut. Mit diesem Begriffswandel sind wichtige Konsequenzen verbunden. Erstens: Während in dem Sozialklassenmodell die Bourgeoisie noch für die Ausbeutung bestimmt und verantwortlich gemacht werden konnte, erscheint das Modell der sozialen Ausgrenzung anonym, niemand scheint dafür die Verantwortung zu tragen. Gleichzeitig ist mit dem Verlust des klaren Ausbeutungsbegriffs die Kritik auf einen ursprünglichen Zustand der Empörung über das bestehende Leid zurückverlagert worden und, ganz wichtig, die Arbeiterklasse als handelnder Akteur mit Zukunftsperspektive verloren gegangen. Im Gegensatz dazu werden die Ausgegrenzten vor allem (anders bei Negri/Hardts "multitude") bestimmt: Sie sind ohne Wohnsitz, ohne Stimme, ohne Papiere, ohne Rechte. Zweitens: Nachdem der Begriff der Ausgrenzung von humanitären und karitativen Einrichtungen übernommen und popularisiert wurde (s.u.), fand er Eingang in die Staatsorgane, verliert dort allerdings die grundsätzliche Protesthaltung. Das (französische) Kommissariat für Wirtschaftsplanung und die Einführung des RMI (Wiedereingliederunsgeld) beziehen sich auf einen Bericht von Abbé Wresinski, einem Geistlichen, der schon 1957 einer "Lager für Obdachlose" gegründet hatte. Die Aufgabe des Staates und der Gesellschaft sei es nun, die "sozial Ausgegrenzten" soweit wie möglich wieder einzugliedern, d.h. in die große Mittelschicht zu integrieren. ( So gesehen wäre in Deutschland die Agenda 2010 nicht nur oder in 1. Linie ein neoliberales Projekt, sondern ein Reformprojekt, das sich Momente der Sozialkritik zueigen gemacht hat. Jedenfalls ließe sich so eventuell erklären, weshalb die Empörung über die ganzen Hartz IV-Regelungen letztendlich gegenüber dem Wunsch nach Wieder-Einschluss in die (Arbeits-)Gesellschaft, auch zu den härtesten Ausbeutungsbedingungen, verblasst.) Drittens: Der Begriff Ausgrenzung und seine Entsprechung, das Einbezogen-Sein, verweisen auf eine Form des sozialen Zusammenhalts in einer vernetzt konzipierten Welt. Das ent-bundene Individuum verfügt über keinerlei Kontakte mehr und ist damit für die Welt nutzlos geworden. Parallel zur konnexionistischen Welt habe sich also eine Definition der sozialen Welt als Netzwerk in Windeseile durchgesetzt.
36. In den nächsten Abschnitten (S. 384- 389) werden konkrete Beispiele in Frankreich dargestellt, wie sich humanitäre Aktionen und neue soziale Bewegungen in den 80er und Anfang der 90er Jahren der Ausgrenzungsthematik gewidmet haben (Zusammenschluss junger Ärzte, Restaurants du coeur). Seit den Streiks von 1995 habe sich jedoch eine Politisierung der Ausgrenzungsproblematik bemerkbar gemacht, z.B. auch ablesbar an dem Erfolg von Bourdieus Misère du monde. Es sei ein Milieu entstanden, in dem hohe Staatsbeamte, Juristen, Wirtschaftswissenschaftler, Soziologen reformistischer Provenienz, Mitglieder konfessioneller Bewegungen und mit Mitstreiter neuartiger Assoziationen (sozialer Bewegungen) eine wichtige Rolle für die Neubegründung der Sozialkritik spielen. Dieses Milieu sei vergleichbar mit jenem Milieu in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, welches den Grundstein für den späteren Sozialstaat gelegt habe. Diese neuartigen Assoziationen (ich denke z.B. an die Sozialforen) haben ihre Kraft nicht nur in den unmittelbaren Aktionen, sondern vor allem in dem Druck, den diese Aktionen und ihr Medienecho auf die Sozialreformer ausüben. Die Organisationsform ist neu, entspricht der Kritik an den starren, totalitären traditionellen Organisationen (Parteien, Gewerkschaften) und dem neuen Geist des Kapitalismus: "Eine Organisationsform ist für diese Situation symbolisch: das Netz, ein flexibles System, in dem man zusammenarbeitet und doch seine Identität bewahrt." (C. Aguiton, Gründer von SUD-PTT) (Rückblickend lässt sich so auch gut die Formengleichheit von leninistischen Kaderorganisationen, sozialdemokratischen Massenorganisationen (Bebel!) und Gewerkschaften mit dem zweiten Geist des Kapitalismus (Mischung aus Paternalismus und zentralisiertem Großbetrieb) beschreiben!). Die Formengleichheit (Homologie) bedeutet für die neuartigen Assoziationen, dass sie dieselben Spannungen, wie sie dem modernen Kapitalismus innewohnen, aushalten müssen. Nämlich zwischen Flexibilität, Mobilität und Schnelligkeit einerseits und einem dauerhaften Engagement andererseits zu vermitteln.
37. Der Begriff der Ausgrenzung gehört nach B./C. zu einer "Politik des Gefühls", deren Inhalt letztendlich auf einen Appell an die Herzensgüte der Menschen hinausliefe. Gleichzeitig verweist das Konzept der Ausgrenzung aber auch auf neuartige Formen der Armut, die im Zuge der kapitalistischen Formationen entstanden sind. Deshalb müsse das Ausgrenzungsthema ernst genommen, aber umgewandelt werden in eine neue Theorie der Ausbeutung, die mit der neuen konnexionistischen Welt, in der die Profite über eine Vernetzung der Unternehmenstätigkeit erzielt werden, kompatibel ist. "Erst eine solche Theorie könnte den ‚Ausgegrenzten' die Last einer einseitigen, individuellen Verantwortung bzw. einer unausweichlichen Fatalität abnehmen und so ihr Schicksal mit dem Gut- und Bessergestellten in Zusammenhang bringen. Deren Verantwortung ließe sich dadurch besser belegen."(389) Der neue Ausbeutungsbegriff müsse in der Lage sein, zwischen der Not der Armen und dem Egoismus der Reichen einen Zusammenhang herzustellen, also die beiden Quellen der Empörung, die zur Sozialkritik führen(s.o.), zusammenzuführen.
38. Das Mobilitätsdifferential (404) erscheint den Autoren als der geeignete Be-griff, dieses neue Verhältnis zu bestimmen: "Was den spezifischen Beitrag der geringen Wertigkeitsträger am Bereicherungsprozess in einer konnexionistischen Welt darstellt und damit die Ursache ihrer Ausbeutung durch die hohen Wertigkeitsträger bildet, ist gerade das, was ihre Schwachstelle ausmacht: ihre Immobilität." (399) Die hohen Wertigkeitsträger haben die Fähigkeit, sich autonom im geographischen Raum zu bewegen, mit unterschiedlichen Personen zu verkehren und sich in verschiedenen Gedankenwelten zu Hause zu fühlen. Der Netzkiller oder networker (s.o.) stellt die Gewinne seiner Mobilität nicht dem Projekt zur Verfügung, sondern behält alle Kontaktgewinne für sich. Der "Wertschöpfungsprozess"(398) besteht nun darin, dass die "Mobilitätsprofite"(401) aus der Immobilität der geringen Wertigkeitsträger resultiert. Wären alle Menschen permanent in Bewegung, gäbe es keine festen Bezugspunkte mehr, ein Netz ohne Knoten kann nicht halten. Die Immobilen bilden die Sicherheit der Mobilen, erhalten dafür aber weder Anerkennung noch Wertschätzung. Je länger die Immobilen in ihrem Zustand verharren, desto kleiner wird ihre Wertigkeit, desto schwächer ihre Fähigkeit zur Mobilität und zur Ausbildung ihrer employability. (Die Bemerkungen zum Mobilitätsdifferential erscheinen mir noch etwas zu vage, zumindest gemessen an dem eigenen Anspruch, einen substanziellen Zusammenhang(398) in dem neuen Ausbeutungsbegriff zu formulieren. Die Analogie zu Marx (ebd.) erscheint mir problematisch. Siehe auch S. 412, wo der Wert einer Ware aus seiner Qualität und seiner Knappheit bestimmt wird.)
39. Um das Mobilitätsdifferential genauer zu beschreiben, werden konkrete Ausbeutungsformen der Mobilität dargestellt. Die Finanzmärkte besitzen einen entscheidenden Mobilitätsvorteil, da sie ihre Investitionen in kürzester Zeit und ohne räumliche Bedingungen tätigen können, Länder und Unternehmen haben den Nachteil. Multinationale Konzerne verhalten sich gegenüber einem Land, einer Region oder einem Standort keineswegs loyaler (Beispiel MAI). Auch in Bezug auf kleinere Firmen (z.B. Zulieferer) kann Mobilitätsdruck ausgeübt werden, die sich allerdings in gleicher Weise global vernetzen, um diesem Druck auszuweichen. Das zeigt sich z.B. bei den Zulieferern in der Automobilbranche, die heute größere Profite erzielen als die Autohersteller. Verbraucher (sic!) sind auch eine Quelle der Instabilität, insofern sie wie der anonyme Aktionär sich für oder gegen den Kauf entscheidet und sich sonst nicht weiter gebunden fühlt. In einer langen Kette an sukzessiven Ausbeutungen nötigen die mobilsten Ausbeuter allen Anderen den Zwang auf, ihre Flexibilität an der größten Kapitalmobilität auszurichten. Das von ihnen betriebene hochmobile Netzwerk kann jedoch nicht auf eine territoriale Verwurzelung noch auf die Leistung von Mensch und Maschine, den beiden Schwergewichten schlechthin, verzichten. Sie wollen sich bereichern, ohne die Fixkosten zu tragen. Deshalb streichen sie den Großteil des in der gesamten Wertschöpfungskette erwirtschafteten Gewinns ein.

Zurück