Thesen zur Diskussion von Hauke Benner und Jochen Klingner
Zurück
0. Vorbemerkung David Hume, schottischer Philosoph und Frühaufklärer, bringt in der Abhandlung "First
Principles of Government" sein Staunen über die Leichtigkeit zum Ausdruck, "with which the many are
governed by the few; and the implicit submission, with which men resign their own sentiments and
passions to those of their rulers." Genau dieses Wunder ist unser Problem. Warum in aller Welt ist
es den Unterdrückten und Verdammten dieser Welt immer noch nicht gelungen, die ganze Scheiße übern
Haufen zu werfen? Warum in aller Welt bekämpfen sie nicht ihre Herrschaft, sondern stimmen ihr zu und
identifizieren sich gar mit ihr? Warum schuften sie sich für nen paar Cent ihr Leben lang wund und
konsumieren massenhaft Dinge, von denen sie selbst wissen, dass sie sie nicht dauerhaft glücklich
machen? Der "neue Geist des Kapitalismus" von B./C. gibt auf diese zentralen Fragen, die sie als
solche gar nicht selbst stellen, eine sehr plausible Antwort: Der Kapitalismus zieht seine Stärke
aus dem Anti-Kapitalismus, aus der Kritik an ihm. Die These mag als solche nicht originell sein,
zuletzt ist sie z.B. von Negri / Hardt im "Empire" in ähnlichen (markanteren) sinngemäß so
formuliert worden: Die neue Form der Herrschaft des "Empire", im Gegensatz zur vorherigen der
nationalstaatlich verfassten des Imperialismus, ist das Resultat der Kämpfe der multitude, diese
Kämpfe seien der Motor der Entwicklung. Auch Beverly J. Silver vertritt diesen Ansatz. Nach ihr
seien es die weltweiten Arbeiterkämpfe, die das Kapital vor sich her trieben, in immer neue Krisen
stürzten und doch immer nur zu befristeten Lösungsversuchen zwingten. (nach D. Hauer im ak) Wenn
also die These als solche nicht besonders originell ist , so sind doch die Begründungen sowie die
zu ziehenden politischen Schlussfolgerungen wesentlich überzeugender, vor allem, weil sie von
eminent praktischer politischer Bedeutung sind. Nämlich in der Frage, wie sich eine Kritik (und
Kämpfe) formulieren lassen, die eben nicht vom Kapitalismus als erneute Legitimationsquelle
benutzt werden können, sondern über ihn hinausweisen. Dass B./C. diese Frage (eher) negativ
beantworten, ist sicherlich ein wesentlicher Grund für ihre geringe Resonanz im linken Spektrum,
sollte uns aber nicht davon abhalten, die Analyse in allen Einzelheiten zu diskutieren und
andere Schlussfolgerungen zu ziehen.
1. Die Studie "Der neue Geist des Kapitalismus" grenzt sich dezidiert gegen marxistische,
strukturalistische und (implizit) systemische Theorien ab. Die AutorInnen kritisieren an diesen
Theorien deren ‚objektivistisches' Herangehen an den geschichtlichen Prozess. In einem solchen
Geschichts- und Gesellschaftsverständnis sei die soziale Welt nur das Ergebnis von "Strukturen",
"Gesetzen" und "Kräften", die sich hinter dem Rücken der Akteure, also ihrem Bewusstein und
Handeln, durchsetzen. Entsprechend sei es auch nicht möglich, einen positiven Bezug zu Werten
und Idealen (z.B. Gerechtigkeit) herzustellen, sondern nur einen negativen, der sie als
"falsches Bewusstsein" oder "Ideologie" demaskiert. Auf Basis dieser Theorien sei es, so B.C.,
nur um den Preis eines ‚eklatanten Selbst-Widerspruchs' möglich, Kritik zu formulieren und zu
sozialem Handeln aufzufordern. Demgegenüber versuchen B./C. die "Frage des Handelns und die
der moralischen Werte (in den Mittelpunkt ihrer Theorie) zu stellen ." (Rolle, S. 460)
2. Die kapitalistische Akkumulation ist ein ökonomischer Prozess, der aus sich selbst heraus
keinerlei Motivation und Begründung für Kapitalisten und Arbeiter schafft, sich "dauerhaft"
und ‚mit Hingabe' an ihm zu beteiligen. Die ‚Zwangsgesetze der Konkurrenz' (Marx) z.B. gelten
B.C. zwar als wichtige Gesetze für die Einführung technischer Neuerungen oder als Grund,
seinen Arbeitsplatz nicht leichtfertig aufs Spiel zusetzen. Aber diese ‚stummen Zwänge der
Verhältnisse' (Marx) sind nur notwendige Voraussetzungen, jedoch keine hinreichende
Bedingungen für ein aktives Engagement am Produktionsprozess, das Initiative und freiwillige
Opferbereitschaft beinhaltet. Eine solche intensive Beteiligungsmotivation zu schaffen ist die
Aufgabe oder der Sinn des Geistes des Kapitalismus. Dieser auf Max Weber zurückgehende
Begriff "Geist" umfasst alle allgemeinen und konkreten Rechtfertigungen und Begründungen für
den Kapitalismus. Während die allgemeinen Rechtfertigungen einen sog. "ideologischen Sockel"
bilden, variieren die konkreten Geiste entsprechend der jeweiligen Akkumulationsmodelle
(siehe Schaubild).
3. Kapitalismus ist ohne Anti-Kapitalismus nicht entwicklungsfähig. Denn der Geist des
Kapitalismus ist zwar als herrschendes Bewusstsein das Bewusstsein der herrschenden Klasse,
aber er verdankt seiner Entstehung im Wesentlichen der Kritik. Sie ist einer der
wirkungsmächtigsten Motoren des Kapitalismus bzw. der Motor für die Veränderungen des
kapitalistischen Geistes. Nur die Kritik setzt den Kapitalismus imstande, moralische Stützen
und Gerechtigkeitsstrukturen in sich aufzunehmen. Die Kritik am Kapitalismus speist sich im
Wesentlichen aus vier Quellen. Dem Kapitalismus wird vorgeworfen, dass er - Authentizität
zerstört, indem er das Besondere einer standardisierten Warenwelt unterordnet - die
Menschen in ihrer Autonomie und Kreativität unterdrückt und sie der Herrschaft des Marktes
aussetzt - Ungleichheit und Armut produziert - der Gemeinschaft schadet, da er den Egoismus
und die Individualinteressen fördert Diese Punkte haben zu zwei verschiedenen
Kritiksträngen geführt. Erstens zu einer Sozialkritik und zweitens zu einer Künstler- oder
Kulturkritik. Zur Kulturkritik: Diese Kritik speist sich vor allem aus den ersten beiden
Quellen. Sie bemängelt, dass der Kapitalismus keinen Raum für ein sinnerfülltes Leben,
freie Entfaltung der Persönlichkeit und das Schöne lässt. Zur Sozialkritik: Diese Kritik
wiederum speist sich aus den letzten beiden Punkten. Sie greift den Kapitalismus an, weil
es ihm nicht gelingt, annähernd gleiche Lebensbedingungen zu schaffen und soziale
Gerechtigkeit zu befördern. Eine umfassende Kritik am Kapitalismus, die die vier
Empörungsquellen integriert, sei unmöglich. "Denn auch die radikalsten Varianten der
Kritik haben stets etwas gemeinsam mit dem, was sie kritisieren wollen." Deshalb komme
es zu einer endlosen Dialektik von Kapitalismus und Kritik - jedenfalls solange man am
Kapitalismus festhalten will, wie B/C an vielen Stellen den Eindruck erwecken; was, wie
gesagt, ja nicht unsere Position sein muss.
4. Der neue Geist des Kapitalismus ist entstanden aus der anti-kapitalistischen Kritik der 68 er
Bewegung, die sich zunächst sowohl auf die Sozial- als auch auf die Künstler/Kulturkritik stützte.
Zunächst ist die Kulturkritik vollständig ignoriert bzw. bekämpft worden, während der Sozialkritik
weit entgegen gekommen wurde (Arbeitszeit, Lohnforderungen etc.) Über einen langen Prozess von
Verschiebungen ist dann jedoch die Sozialkritik zurückgedrängt worden, und zwar nicht nur durch die
Veränderungen der Produktionsstrukturen, sondern auch durch die
Aktivierung/Instrumentalisierung/Verschiebung (wie auch immer) der Kulturkritik der 68er. Der neue
Geist speist sich in seinen zentralen Paradigmen aus den ursprünglichen Träumen, Hoffnungen und
Utopien der 68er. Das vor allem in der linken Szene und vor allem der
Arbeiterselbstverwaltungsbewegung (auch Kollektive) formulierte Bedürfnis nach Autonomie,
Spontaneität, Mobilität, Disponibilität, Kreativität, Plurikompetenz, die Fähigkeit, Netzwerke zu
bilden und auf andere zuzugehen, die Offenheit gegenüber Anderem und Neuem, die visionäre Gabe, das
Gespür für Unterschiede, die Rücksichtnahme auf die je eigene Geschichte und die Akzeptanz der
verschiedenartigen Erfahrungen, die Neigung zum Informellen und das Streben nach
zwischenmenschlichen Kontakt sind direkt der Ideenwelt der 68er entliehen.(143/144) Allerdings -
nicht zu vergessen - werden diese Eigenschaften und Wünsche im Kontext des Neomanagements anderen
Zielen zugeordnet und in den Dienst jener Kräfte gestellt, die eigentlich zerstört werden sollten.
Auch wenn die materiellen Produktionsstrukturen (Stichwort Toyotismus) dem neuen Geist noch gar
nicht mehrheitlich entsprechen sollten, was von vielen KritikerInnen als Haupteinwand immer wieder
formuliert wird, so ist doch die "kulturelle Hegemonie" längst erobert. Die "neue Leitkultur"
besteht in dem Paradigma des "flexiblen Menschen"(Sennett). (Ausführlich in Teil 2: 1968 - Krise
und Erneuerung des Kapitalismus).
5. Nach B./C. erleben wir gerade die Geburtsstunde einer neuen
gesellschaftlichen Konfiguration. Die Begriffe Netz und Projekt erfassen die neuen
Akkumulationsbedingungen und Bewusstseinsformen besser als z.B. der gängige Begriff
"Neoliberalismus", der schon im Begriff das Neue gar nicht zu fassen vermag. Netzwerkförmige
Strukturen und Projekt an Stelle der festen Arbeitsverträge gerieren einen anpassungsfähigen
Typus von Mensch. In Punkt 23 wird die neue Wertigkeitsordnung für den Menschen dargestellt: Die
uns Älteren bei den Jüngeren oft auffallende und manchmal ärgernde postmoderne Beliebigkeit der
Meinungen - "die stehen doch drüber, weil sie nie drin gestanden haben"- hat ihren tieferen
Grund/Sinn also darin, grundsätzlich nicht-kritisch zu sein. Denn eine solche Grundeinstellung,
insofern sie stark einen festen Bezugspunkt der Kritik wählt, widerspricht den Imperativen der
Anpassung, der Flexibilität und der Toleranz. Denn die Anpassungsfähigkeit ist zweifellos der
Schlüssel zum Verständnis des Netzes. Zu fragen wäre also an dieser Stelle, wie vor diesem
Hintergrund überhaupt noch gründliche Kritik formuliert werden kann....
6. Für die allgemeine Diskussion ist die Frage wichtig, in welchem Verhältnis die
innerkapitalistische und globale Konkurrenz zur vom Kapital produzierten Kritik steht? In welchen
Phasen des Akkumulationsprozesses mehr die Kritik zur Wandlung des kap. Produktionsprozesses
beiträgt und in welchen Phasen eher die Konkurrenz die Umbrüche im kap. Akkumulationsprozess
hervorruft. Diese Fragen werden bei B/C nur eher am Rande erörtert. (Siehe dazu einen Hinweis im
Punkt 17 der Zusammenfassung)
7. An die Stelle des Begriffs "Ausbeutung" , der noch deutliche Klassenbezüge aufwies, ist der
sehr unspezifische Begriff der "Ausgrenzung" getreten. Nicht mehr die Fragen, wie und zu welchen
Bedingungen der Menschen arbeiten sollte, steht im Zentrum des gesellschaftlichen Gesprächs,
sondern ob der Mensch "drin oder draußen". Und Arbeit zu haben, egal welche und zu welchen
Bedingungen, scheint das Allerwichtigste zu sein. B.C. reaktivieren den Begriff Ausbeutung und
versuchen ihn auf die netz-projekt-struktur zu übertragen, indem sie den Begriff
"Mobilitätsdifferential" schöpfen: Mobile Akteure können nur unter der Bedingung Extraprofite
einstreichen, dass sie sich auf die Immobilen verlassen und stützen können. Beispiele im
Punkt 39.
8. Eine theoretische Diskussion, die zu handlungsorientierten Schritten zur Überwindung des
Kapitalismus kommen will, muss die Notwendigkeit der Zusammenführung von
Kultur- und Sozialkritik thematisieren. Auch wenn die Vorschläge von B.C. hier nur sehr
mager erscheinen (siehe die letzten Punkte im Teil 3 der Zusammenfassung), zeigen sie doch
den richtigen Weg auf: Wie nämlich lassen sich in der neuen projektbasierten
Netzwerkgesellschaft sowohl die Grundforderung nach sozialer Sicherheit als auch die
Bedürfnisse nach Autonomie und Freiheit (individuelle Flexibilität) theoretisch und
praktisch bewerkstelligen?
Zurück